Stellen Sie sich vor, in einem Land sind unzählige Goldbarren in der Zentralbank eingelagert. Ein gewisser Robin Hood erscheint und befreit das Gold, um es den Armen des Landes zu geben. Nach dieser Handlung gleicht die Verteilung des Wohlstands eher der, die durch die besten Theorien der liberalen politischen Gerechtigkeit gefordert wird. Ist dieses Land moralisch verpflichtet, das Gold den Armen zu lassen? Die Reaktionen auf diese Frage werden sicherlich unterschiedlich ausfallen, doch für mich ist die Antwort eindeutig: nein. Distributive Gerechtigkeit ist ein wichtiger Wert, aber ebenso bedeutend ist die politische Selbstbestimmung, und Robin Hood ist nicht die richtige Instanz, um zu entscheiden, welche fiskalpolitischen Maßnahmen das Land verfolgen sollte. Staaten – zumindest demokratische – haben das Recht, innerhalb der Grenzen der Menschenrechte auch dumm zu handeln.
Das bedeutet jedoch, dass wir nicht automatisch annehmen können, dass eine Maßnahme verpflichtend ist, nur weil sie zu einer gerechteren Verteilung führt. Der Gedanke, dass offene Grenzen die Welt näher an eine gerechte Verteilung des Wohlstands bringen würden, reicht nicht aus, um das Argument für offene Grenzen zu rechtfertigen. Es eröffnet lediglich das Gespräch über die Frage, wie politische Prinzipien wie die distributive Gerechtigkeit mit anderen normativen Konzepten wie der Selbstbestimmung oder dem Recht, Verantwortung für die Menschenrechte anderer zu vermeiden, abgewogen werden sollten.
In diesem Kapitel möchte ich zunächst das Argument der Gleichheit der Chancen näher betrachten, da ich es als eine vielversprechendere Grundlage für die Diskussion über Migration und Gerechtigkeit halte. Das Konzept der Gleichheit der Chancen wurde von Oberman als Reaktion auf die Auffassung von David Miller entwickelt, der argumentierte, dass Menschen nicht das Recht auf eine maximale Anzahl von Möglichkeiten hätten, sondern nur auf eine „angemessene“ Auswahl. Oberman verteidigt jedoch die Ansicht, dass jeder Mensch Anspruch auf eine maximale Bandbreite an Optionen hat – auf das, was er als „das gesamte Spektrum bestehender Lebensoptionen“ bezeichnet.
Oberman argumentiert, dass der Anspruch auf diese vollständige Bandbreite von Optionen aus den persönlichen und politischen Interessen des Individuums resultiert. Ein Mensch könnte in ein anderes Land ziehen wollen, um einen anderen Lebensplan zu verfolgen oder mehr über die politische Praxis in anderen Teilen der Welt zu erfahren. Eine Weigerung, ihm dieses Recht zu gewähren, wäre vergleichbar damit, ihm die Optionen innerhalb des eigenen Staates zu entziehen. Würde man Menschen das Recht auf Bewegung nur auf eine „angemessene“ Auswahl von Optionen beschränken, dann könnte man das gleiche Argument für die innerstaatliche Mobilität anführen: Wenn Belgien nur ein „angemessenes“ Set von Optionen bietet, könnte man die Vereinigten Staaten aufteilen und mit Grenzen versehen, ohne das Recht auf Bewegungsfreiheit zu verletzen. Doch Oberman weist darauf hin, dass solche Einschränkungen ungerecht wären, da die Menschen das Recht auf ein vollständiges Spektrum von Optionen haben. Jeder Ausschluss, so Oberman, ist demnach grundsätzlich ungerecht.
Diese Argumentation jedoch scheint die moralische Struktur der Bürgerrechte zu missverstehen. Zunächst einmal ist es fraglich, ob es moralisch gerechtfertigt ist, dass jede Person Anspruch auf die maximal mögliche Anzahl an Optionen hat. Wenn ein Land sich entscheiden muss, ob es industrialisieren oder eine agrarische Lebensweise fortführen soll, wäre es ein Fehler, diese Entscheidung lediglich aufgrund der Anzahl der Optionen zu treffen. Die Tatsache, dass Industrialismus mehr Möglichkeiten schafft, gibt uns keinen endgültigen Grund zu der Annahme, dass der Verzicht auf Industrialisierung ungerecht ist. Es kommt nicht darauf an, wie viele Optionen zur Verfügung stehen, sondern auf die Frage, warum sie diese Zahl erreicht haben.
Betrachten wir erneut das Beispiel mit den Vereinigten Staaten, die sich in kleinere, Belgien-große Einheiten aufteilen. Während ich diese Entscheidung als bedauerlich empfinden würde, scheint es mir nicht grundsätzlich ungerecht zu sein, solange die Menschen weiterhin innerhalb dieser Einheiten mobil sind. Wenn jedoch ein Staat sowohl das Recht beansprucht, seine Bürger zu regieren, als auch das Recht, sie an der Bewegung innerhalb des eigenen Territoriums zu hindern, dann kann dies als moralisch ungerecht angesehen werden. Denn, so würde man argumentieren, ein Staat, der sich das Recht herausnimmt, seine Bürger zu regieren, kann ihnen nicht gleichzeitig das Recht verwehren, sich innerhalb des Staates frei zu bewegen.
Ein weiteres Beispiel zur Verdeutlichung der Argumentation findet sich im Bereich der Religionsfreiheit. Wir sind uns einig, dass es moralisch unzulässig ist, eine Religion wie das Judentum zu verbieten. Die Begründung für diese Unzulässigkeit hat jedoch weniger mit der Anzahl der möglichen religiösen Optionen zu tun, als vielmehr mit der Art und Weise, wie der Staat seine Bürger behandelt. Das Verbot einer Religion ist eine Verletzung der Religionsfreiheit, nicht weil es die Anzahl der religiösen Optionen beschränkt, sondern weil es die moralische Bedeutung der Überzeugungen der Bürger in Frage stellt. Die moralische Bedeutung der Glaubensfreiheit liegt nicht in der Zahl der verfügbaren Optionen, sondern in der Art und Weise, wie der Staat mit den Überzeugungen seiner Bürger umgeht.
Abschließend lässt sich sagen, dass der Zugriff auf ein möglichst breites Spektrum von Optionen – sei es in Bezug auf Migration, Wirtschaftsordnung oder Religion – nicht nur eine Frage der Quantität ist, sondern der Gerechtigkeit in der Behandlung und Berücksichtigung der Bedürfnisse und Rechte des Einzelnen innerhalb einer Gesellschaft. Die Frage, ob wir dem Einzelnen das Recht auf Mobilität oder andere Freiheiten gewähren, darf nicht nur durch die Anzahl der Optionen bestimmt werden, sondern muss vielmehr auf den moralischen und politischen Werten basieren, die diese Entscheidungen untermauern.
Sollte ein Staat Barmherzigkeit in seiner Migrationspolitik ausüben?
Die Gesellschaft ist nicht verpflichtet, allen Menschen zu helfen, die in Not sind. Wenn jemand an unsere Grenze tritt, um Hilfe zu suchen, so ist diese Person nicht in einer Position, die uns moralisch zwingt, ihr zu helfen. Sie fordert weder unsere Gerechtigkeit noch unsere Rechte auf, wie es zum Beispiel der Fall wäre, wenn die grundlegenden Prinzipien wie Gleichheit der Staatsbürgerschaft in Frage gestellt würden. Vielmehr handelt es sich um eine Person in einer benachteiligten Situation, die in ihrer Not auf Hilfe angewiesen ist. Wir könnten dieser Person gegenüber hart auftreten, ohne ihr Unrecht zuzufügen, aber wenn wir dies konstant tun, wird unsere Gesellschaft als moralisch mangelhaft angesehen. Wir handeln nicht ungerecht, aber wir sind definitiv unbarmherzig. Es ist daher wichtig zu betonen, dass eine Gesellschaft kritisiert werden kann, wenn sie es versäumt, über das bloße Maß der Gerechtigkeit hinauszugehen. Die Frage ist, ob eine Tugend wie Barmherzigkeit, die eine politische Gesellschaft begleiten sollte, innerhalb dieses Rahmens eine Rolle spielt.
Viele Menschen könnten grundsätzlich zustimmen, dass eine solche Tugend wie Barmherzigkeit in der Politik präsent sein sollte. Sie könnte ein Teil der Diskurswerkzeuge sein, mit denen wir bestimmte politische Maßnahmen bewerten, loben oder kritisieren. Es gibt jedoch eine Tendenz, den Begriff „Barmherzigkeit“ als nicht ganz passend zu empfinden. Die Frage, warum ausgerechnet dieses Wort verwendet werden sollte, ist dabei zentral. In der Diskussion über Migration ist es von Bedeutung, Barmherzigkeit als eine richtige Bezeichnung für eine bestimmte moralische Haltung zu verteidigen. Es gibt gleich mehrere Gründe, warum dieser Begriff in diesem Zusammenhang passend erscheint.
Zunächst einmal ist es so, dass jemand, der an einer Grenze vorstellig wird, in einem sehr wörtlichen Sinne auf die Barmherzigkeit der Wachen angewiesen ist. Wenn eine Person vor einem bewaffneten Grenzwächter steht, ist sie in einer asymmetrischen Machtbeziehung gefangen, in der sie durch die Entscheidung des Wächters völlig zerstört werden könnte. Das bedeutet, dass die Grenze zwischen der Person und dem Staat nicht nur eine politische Trennung ist, sondern eine Gefahr für die Existenz der Person darstellen kann. Diese radikale Ungleichheit der Macht zwischen den Akteuren muss in den politischen Diskurs aufgenommen werden. Die Migrantin befindet sich, bildlich gesprochen, in einer äußerst verletzlichen Situation, die uns auffordert, über die Notwendigkeit von Barmherzigkeit nachzudenken.
Ein weiterer Grund für die Wahl des Begriffs der Barmherzigkeit liegt in der historisch und kulturell geprägten Verbindung zwischen Religion und Migration. Viele religiöse Traditionen haben Konzepte, die der Barmherzigkeit nahekommen. In der islamischen und christlichen Welt wird Barmherzigkeit als göttliche Tugend verstanden, die die moralische Grundlage für den Umgang mit den Bedürftigen bietet. Auch im Buddhismus findet sich mit der Figur der Guanyin ein Symbol für Mitgefühl und Barmherzigkeit. In Europa und Nordamerika war das christliche Ideal der „Misericordia“ ein wesentlicher Bestandteil der Migrationstheorie. Hier war es oft die religiöse Verpflichtung, Migranten zu helfen, die den Anstoß für politische Bewegungen gab. So begann die Sanctuary-Bewegung in den USA mit einer theologischen Überzeugung, dass Menschen, die vor Gewalt fliehen, auch Schutz innerhalb des Landes suchen dürften – trotz gesetzlicher Einschränkungen. Menschen wie John Fife, ein Pfarrer in Tucson, setzten sich mit der Forderung nach einer christlichen Kombination von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit auseinander. Dies ist ein Beispiel dafür, wie die christliche Tradition der Barmherzigkeit auch in einem politischen Kontext eine Rolle spielen kann.
Die Frage, ob diese religiösen Normen direkt in die Politik übernommen werden sollten, ist eine komplexe. Es geht hier nicht darum, religiöse Werte zu übernehmen, sondern vielmehr darum, die erkenntnistheoretische und praktische Bedeutung von Barmherzigkeit als moralischem Instrument in politischen Fragen anzuerkennen. Politiker und Denker der politischen Philosophie sind gut beraten, den Einsatz des Begriffs der Barmherzigkeit ernsthaft zu prüfen, ohne sich dabei zu einer religiösen Überzeugung zu bekennen. Dieser Begriff hat rhetorische Kraft und könnte als nützliches Werkzeug dienen, um den moralischen Diskurs über Migration zu bereichern.
Schließlich wird der Begriff der Barmherzigkeit auch im rechtlichen Kontext immer wieder verwendet. In der Kriminalpolitik beispielsweise wird Barmherzigkeit oft in Fällen angewendet, in denen die Strafe, die gemäß der Gerechtigkeit verhängt werden könnte, als übermäßig grausam angesehen wird. Dies zeigt sich im Fall der Seeleute von Dudley und Stephens, die nach einem schweren Verbrechen zu Tode verurteilt wurden, obwohl sie aus existenziellen Gründen handelten. Ein Staat, der Gnade gewährt, handelt nicht ungerecht, sondern nimmt Rücksicht auf das individuelle Leid. Es geht hierbei nicht darum, Gerechtigkeit zu negieren, sondern zu verhindern, dass die Anwendung von Gerechtigkeit in ihrer rein mechanischen Form zu einer grausamen und unmenschlichen Handlung wird.
Diese Betrachtungsweise kann auf die Migration übertragen werden. Auch wenn es rechtlich nicht ungerecht ist, einen Migranten abzulehnen oder auszuweisen, bedeutet das nicht, dass der moralische Aspekt der Entscheidung schon vollständig geklärt ist. Der Staat könnte aus moralischen Gründen auf Maßnahmen verzichten, die er eigentlich durchführen könnte, weil diese als zu grausam oder unnötig betrachtet werden. Genauso wie in der Strafrechtspflege könnte die Barmherzigkeit als Korrektiv zu einer möglicherweise ungerechten Härte des Gesetzes wirken.
Es gibt jedoch auch kritische Stimmen, die in der Forderung nach Barmherzigkeit eine Problematisierung der Migration und der sozialen Verantwortung sehen. Die politische Philosophie könnte argumentieren, dass der Begriff der Barmherzigkeit denjenigen, die diese Hilfe erhalten, eine bestimmte moralische „Schuld“ zuschreibt. Die Migration könnte nicht einfach als ein Akt des Bittens um Gnade verstanden werden, sondern als ein legitimes Recht auf Bewegungsfreiheit und Schutz vor Verfolgung, das nicht durch die Gnade eines Staates gewährt wird.
Es ist wichtig zu betonen, dass das Argument für Barmherzigkeit nicht mit einer vollständigen Ablehnung der rechtlichen und politischen Normen verwechselt werden darf. Barmherzigkeit sollte nicht als eine Ausnahme betrachtet werden, die in einer Gesellschaft für die Migranten gewährt wird, sondern als ein fortwährender Bestandteil einer gerechten Gesellschaft, die nicht nur durch gesetzliche Bestimmungen, sondern auch durch die moralische Verantwortung geprägt ist. Die ethische Grundlage der Barmherzigkeit ist daher unverzichtbar, wenn es darum geht, die Lebensrealität von Migranten und die Verpflichtung des Staates, diesen in einer menschenwürdigen Weise zu begegnen, zu verstehen.
Wie unsere Gedanken und Worte die Realität erschaffen: Die Bedeutung von Sprache und Wahrnehmung
Wie testet man Angular-Komponenten effektiv mit Component Harnesses?
Wie Coroot die Überwachung von Cloud-Umgebungen revolutioniert und die Leistungsanalyse vereinfacht
Wie Costa Ricas politische Eliten das Klimaschutzmodell geprägt haben

Deutsch
Francais
Nederlands
Svenska
Norsk
Dansk
Suomi
Espanol
Italiano
Portugues
Magyar
Polski
Cestina
Русский