Die kontroversen Aktionen des russischen Künstlers Petr Pavlenski, insbesondere seine Selbstverstümmelungen, provozieren eine Vielzahl von Interpretationen, die sich in unterschiedlichen Deutungsrahmen („Frames“) manifestieren. Diese Frames bestimmen maßgeblich, wie sein Handeln verstanden und bewertet wird – sei es als künstlerischer Protest, Ausdruck einer psychischen Erkrankung oder strafrechtlich relevante Sachbeschädigung. Die Einordnung seines Tuns erfolgt nicht nur subjektiv, sondern folgt gesellschaftlich vorherrschenden Mustern der Bedeutungszuweisung, wie sie sich in der semiotischen Theorie und insbesondere bei Charles Peirce wiederfinden.
Peirce unterteilt Zeichen nach ihrer Komplexität und Reflexivität. Die einfachsten Zeichen wirken unmittelbar und unreflektiert, während komplexe Zeichen mediativ und reflexiv sind, da sie auf Konventionen, Gewohnheiten oder Gesetzen beruhen. Diese Differenzierung hilft zu verstehen, wie Pavlenskis Aktionen in verschiedenen sozialen Kontexten unterschiedlich interpretiert werden. Ein zunächst wahrgenommenes Symbol – etwa Selbstverstümmelung – kann im alltäglichen Sinn als Zeichen für psychische Krankheit gedeutet werden, im juristischen Kontext aber als Straftat wie Vandalismus oder als provokative Kunst im öffentlichen Diskurs.
Die erste Reaktion, das „erste Interpretans“ im Sinne Goffmans und Peirce’ wird zum Frame, der die nachfolgende Interpretation lenkt. So wird beispielsweise die Handlung Pavlenskis durch den psychiatrischen Frame als Beweis für geistige Erkrankung gedeutet: Die Selbstverstümmelung sei so grotesk, dass sie zwangsläufig auf eine psychische Störung hinweise. Pavlenski kontert diese Deutung, indem er die Prämisse infrage stellt – Selbstverletzung könne auch bewusstes politisches Statement sein. Er zwingt das Justizsystem, sich zwischen der Aufrechterhaltung seiner Integrität und der Unterstützung eines repressiven Regimes zu entscheiden, indem er bewusst die schwerstmögliche Anklage fordert und so die Legalität seiner Aktionen politisch verhandelt.
Diese Strategie zeigt Pavlenskis Handlung nicht als irrationales Verhalten, sondern als rhetorische Erfindung, die den Rahmen der Interpretation verschiebt und kulturelle Übersetzung vollzieht. Indem er den initialen Interpretationsrahmen bricht und einen neuen anbietet, verändert er nicht nur die Bedeutung seiner Tat, sondern auch die gesellschaftliche Reaktion darauf. Das zeigt die performative Kraft von Kunst als Mittel politischer Kommunikation und Kritik, die weit über die traditionelle Wahrnehmung von Kunst hinausgeht.
Neben der Dimension der Frames ist es wichtig, die politische Bedeutung der Selbstverstümmelung als Zeichen eines extremen Protests zu reflektieren. Pavlenskis Körper wird zur Leinwand und zum Medium, durch das er Gewalt und Repression sichtbar macht – eine Verkörperung des Widerstands, die gleichzeitig Verletzlichkeit und Agency zeigt. Dies verweist auf eine ambivalente Rolle von Schmerz im politischen Diskurs: Schmerz ist sowohl Instrument der Unterdrückung als auch Mittel der Emanzipation.
Darüber hinaus verweist Pavlenskis Praxis auf das Spannungsfeld zwischen individueller Freiheit und staatlicher Kontrolle. Die juristische Bewertung seiner Taten offenbart die Mechanismen, mit denen autoritäre Regime dissidente Ausdrucksformen pathologisieren oder kriminalisieren, um Opposition zu delegitimieren. Die Auseinandersetzung mit Pavlenskis Aktionen lädt dazu ein, den Begriff der Kunst als bloße ästhetische Kategorie zu überwinden und die politische Funktion von Kunst als eine Form der Widerstandsleistung ernst zu nehmen.
Von zentraler Bedeutung ist auch das Verständnis, dass Frames nicht statisch sind, sondern dynamisch konstruiert und durch Handlungen wie jene Pavlenskis transformiert werden können. So sind soziale Bedeutungen nicht vorgegeben, sondern werden im politischen und kulturellen Kontext ausgehandelt. Dies eröffnet Perspektiven auf die Macht der symbolischen Kommunikation in einer polarisierten Welt, in der politische Identitäten und Wahrheiten ständig neu definiert werden.
Was bedeutet kulturelle Übersetzung im Zeitalter der Zeichen, Ideologien und medialen Manipulation?
Kulturelle Übersetzung ist weit mehr als nur die Übertragung von Wörtern oder Sätzen zwischen Sprachen. Sie ist ein ideologischer und epistemologischer Akt, bei dem Bedeutungen in andere symbolische Systeme überführt, umgeschichtet und neu codiert werden. In diesem Prozess begegnen sich asymmetrische Machtverhältnisse, historische Diskurse und kollektive Imaginationen. Tomislav Z. Longinovic beschreibt diese Dynamik als „furchterregende Asymmetrien“, die durch kulturelle Translation nicht nivelliert, sondern offengelegt und zugleich reproduziert werden. Übersetzung ist in diesem Sinne nicht neutral, sondern performativ und konflikthaft – ein politischer Akt der Bedeutungssetzung und Bedeutungsverschiebung.
Charles Sanders Peirces semiotische Theorie bietet hierfür einen produktiven Rahmen. Zeichen – in ihrer Dreigliedrigkeit aus Repräsentamen, Objekt und Interpretanten – sind keine festen Größen, sondern Vermittlungsinstanzen zwischen Welt und Bewusstsein. Peirces Ansatz entzieht sich jeder Vorstellung von finaler Bedeutung; vielmehr ist der Interpretant selbst wieder Zeichen, das eine unendliche Kette von Bedeutungserzeugungen in Gang setzt. In diesem unendlichen Prozess wird kulturelle Übersetzung als semiotischer Wandel sichtbar: Bedeutung wird nicht „übertragen“, sondern erzeugt, oft entlang diskursiver Brüche.
George Orwell hat mit „Politics and the English Language“ und „Nineteen Eighty-Four“ bereits vor Jahrzehnten den Zusammenhang zwischen Sprache, Macht und ideologischer Manipulation sichtbar gemacht. William Lutz führt diese Gedanken weiter in seiner Analyse des Doublespeak – einer Sprache, die darauf abzielt, Realität zu verschleiern, Kritik zu neutralisieren und Autorität zu stabilisieren. In einer post-orwellschen Welt ist Translation nicht nur ein linguistisches, sondern ein ideologisches Schlachtfeld. Wer übersetzt, entscheidet, welche Narrative überleben und welche zum Verstummen gebracht werden.
In diesem Kontext wird die Rolle der Medien zentral. Die Analyse der New York Times zu Trumps medialer Rhetorik zeigt, wie politische Sprache gezielt mit kulturellen Codes spielt, Bedeutungen verzerrt oder fragmentiert, um Machtverhältnisse zu stabilisieren. Retweets, aus dem Kontext gerissene Zitate, oder bewusst falsch interpretierte Begriffe – all das sind Praktiken kultureller Re-Übersetzung. Jennifer Mercieca spricht in diesem Zusammenhang von einer „insidious strategy“, die das Vertrauen in kommunikative Systeme systematisch aushöhlt.
Die Theorie der kulturellen Translation, wie sie u.a. von Sarah Maitland und Paul Ricoeur entfaltet wurde, verweist auf den unauflösbaren Widerspruch zwischen Treue zum Original und dem Zwang zur Transformation im Zielkontext. Jede Übersetzung ist ein Akt des Verrats und zugleich der Schaffung von Neuem. Doch es geht nicht nur um semantische Anpassung – es geht um epistemische Umcodierung. Edward Said hat in seinem Beitrag über die Rolle der Anthropologie als ideologisches Instrument gezeigt, wie kulturelle Repräsentation immer schon eine Übersetzungsleistung ist – eine, die koloniale Diskurse reproduzieren oder unterwandern kann.
Auch der Körper wird im Diskurs kultureller Translation performativ. Arbeiten von Künstlern wie Petr Pavlenskij – dokumentiert in Studien von Diana Nastasia oder Ivan Nechepurenko – zeigen, wie physische Selbstverletzung als semiotischer Akt gelesen werden kann, der kulturelle Codes dekonstruiert und neue Formen von politischer Agency generiert. Der Körper wird zum Träger von Zeichen, zum Ort der Widerrede gegen hegemoniale Narrative.
Die Rolle der Technologie und der algorithmischen Logik in der Bedeutungsproduktion ist ebenfalls nicht zu unterschätzen. Die quantitative Analyse kultureller Texte, wie sie Michel et al. mit Hilfe digitalisierter Bücher vorgelegt haben, zeigt, wie tief die automatisierte Semiotik in unsere kulturellen Archive eingreift. Der Zugriff auf diese Archive ist immer auch ein Zugriff auf Bedeutungshegemonien – eine neue Form der kulturellen Translation, algorithmisch vermittelt und massenhaft skalierbar.
Wichtig ist zudem, dass kulturelle Übersetzung nicht nur interlingual oder interkulturell gedacht werden kann, sondern auch intra-kulturell, als Übersetzung zwischen Subsystemen derselben Gesellschaft: Politik, Kunst, Recht, Medien, Wissenschaft. Jeder dieser Diskurse verfügt über eigene Codes und Symbolsysteme. Translation wird zur Bedingung für interdiskursive Kommunikation – und zugleich zur Möglichkeit, ideologische Differenzen sichtbar zu machen.
In dieser komplexen Konstellation bleibt eine zentrale Erkenntnis: Jede Übersetzung ist ein Akt der Macht. Sie entscheidet nicht nur darüber, was gesagt wird, sondern auch darüber, was sagbar bleibt.
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