Die Diskussion über soziale Ungleichheit ist häufig durch eine sehr enge Perspektive geprägt, die sich auf nationale Rahmenbedingungen beschränkt. In dieser Betrachtungsweise werden Ungleichheiten oft ausschließlich als Disparitäten innerhalb eines Staates wahrgenommen, wobei die sozialen Dynamiken und globalen Verhältnisse weitgehend unbeachtet bleiben (Bashi Treitler und Boatcă, 2016: 160). Diese Einschränkung der Perspektive, die als „methodologischer Nationalismus“ bezeichnet wird, ignoriert die weitreichenden globalen Verbindungen und Wechselwirkungen, die maßgeblich zur Entstehung und Verstärkung von Ungleichheiten beitragen. Die Nation als soziales Konstrukt wird häufig als die zentrale Ebene für die Analyse sozialer Ungleichheit betrachtet, was jedoch dazu führt, dass die globalen Dimensionen von Ungleichheit, insbesondere die Verhältnisse zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden, weitgehend ausgeklammert bleiben.

Ein zentrales Problem dieser Betrachtungsweise liegt in der Tatsache, dass sie die Vorstellung eines nationalstaatlich begrenzten Rahmens für die Lösung von Ungleichheit unterstützt. Politiken zur Umverteilung, demokratische Teilhabe und Bildung werden dabei als die Hauptmittel zur Bekämpfung von Ungleichheit innerhalb eines Staates angesehen (Weiß, 2017: 1318; Bashi Treitler und Boatcă, 2016: 164). Solche Ansätze „territorialisieren“ jedoch Kämpfe um soziale Gerechtigkeit, indem sie diese auf die Bürger eines spezifischen politischen Gemeinwesens beschränken und so die Fragen von Gerechtigkeit und Gleichheit auf nationale Grenzen reduzieren (Fraser, 2008: 401). Dies hat zur Folge, dass die Probleme globaler Ungleichheit weitgehend vernachlässigt werden, was die Chancen auf eine wirksame Bekämpfung von Ungleichheit auf der globalen Ebene stark einschränkt.

Die Analyse der nationalen Einkommensungleichheiten, wie sie häufig in westlichen, vor allem west-europäischen Kontexten durchgeführt wird, übersieht die nicht-westlichen und nicht-europäischen Erfahrungen mit Ungleichheit (Bashi Treitler und Boatcă, 2016: 160). Dieser Ansatz blendet die tiefer liegenden historischen und kolonialen Machtverhältnisse aus, die die moderne soziale und wirtschaftliche Ordnung maßgeblich geprägt haben. Die sozialen Hierarchien, die sich aus der Kolonialisierung, der Versklavung und den Arbeitsmigrationen ergeben, sind bis heute ein wesentliches Merkmal der globalen Ungleichheit und des Kapitalismus. Es ist entscheidend, diese historischen Prozesse zu erkennen und in die Analyse von Ungleichheit einzubeziehen.

Die Frage, wie Ungleichheit zu definieren ist, ist jedoch nicht trivial. Für viele bedeutet „Ungleichheit“ vor allem eine ungleiche Verteilung von Ressourcen oder wirtschaftlichen Chancen. Doch diese enge Definition greift zu kurz, da sie die komplexen sozialen Beziehungen und Hierarchien, die Ungleichheit bedingen, nicht berücksichtigt. Ungleichheit ist nicht nur eine Frage der materiellen Ressourcen, sondern betrifft auch die soziale Stellung und die Möglichkeit, als gleichwertiger Teil der Gesellschaft zu leben. Therborn (2013: 48–49) beschreibt Ungleichheit als ein Phänomen, das sich auf drei Ebenen manifestiert: als „vitaler“ Aspekt, der die körperliche Existenz betrifft, als „existentiellen“ Aspekt, der die Autonomie, Freiheit und Würde betrifft, und schließlich als „ressourcenbezogene“ Ungleichheit, die die Chancen zur aktiven Teilhabe an der Gesellschaft betrifft. In all diesen Dimensionen zeigt sich, wie Ungleichheit das Leben von Individuen prägt und welche Auswirkungen sie auf ihre Lebensqualität hat.

Ungleichheit ist mehr als eine Frage der finanziellen Verteilung. Sie betrifft die Würde des Menschen, da sie die Möglichkeit der individuellen Entfaltung und der Ausübung menschlicher Fähigkeiten einschränkt. Die Auswirkungen sind vielfältig und reichen von vorzeitigem Tod und Krankheit bis hin zu Demütigung, Diskriminierung und sozialer Ausgrenzung. Ungleichheit führt zu einem Mangel an Selbstachtung, zu Angst, Unsicherheit und einem Gefühl der Machtlosigkeit. Sie schafft Barrieren für die Teilhabe am sozialen Leben und schränkt die Entwicklung von Fähigkeiten und Chancen ein. Dies zeigt sich in allen Bereichen der Gesellschaft und betrifft nicht nur die Armut, sondern auch den sozialen Status, die politische Repräsentation und die Zugehörigkeit.

Ein zentrales Merkmal von Ungleichheit ist, dass sie immer mit Machtverhältnissen, Dominanz und Subordination verbunden ist. Die Analyse sozialer Ungleichheit muss daher auch die Beziehungen von Macht und die Hierarchien von Respekt und Anerkennung berücksichtigen. Ungleichheit ist nicht nur eine Frage der Ressourcenverteilung, sondern auch eine Frage von sozialer Anerkennung und der Möglichkeit, als gleichwertiger Teil der Gesellschaft wahrgenommen zu werden. Der Kampf gegen Ungleichheit ist daher nicht nur ein wirtschaftlicher, sondern auch ein moralischer und politischer Kampf. Er zielt darauf ab, die grundlegende moralische Gleichheit aller Menschen zu bekräftigen und eine Gesellschaft zu schaffen, in der alle Bürger sich gegenseitig mit Respekt und Kooperation begegnen (Anderson, 2014: 259).

Gleichzeitig müssen wir erkennen, dass Ungleichheit nicht nur auf eine Dimension wie Klasse oder Einkommen reduziert werden kann. Die verschiedenen Formen der Ungleichheit – sei es aufgrund von Geschlecht, Rasse oder ethnischer Zugehörigkeit – sind miteinander verflochten und können nicht isoliert betrachtet werden. Die intersektionale Perspektive, die die Überschneidungen dieser verschiedenen Dimensionen anerkennt, ist entscheidend, um die komplexen Mechanismen von Ungleichheit vollständig zu verstehen. Die Analyse darf nicht nur eine Dimension wie die ökonomische Ungleichheit in den Vordergrund stellen, sondern muss auch die sozialen und politischen Dimensionen berücksichtigen, die Ungleichheit prägen.

Ungleichheit ist nicht nur das Produkt individueller oder sozialer Unterschiede, sondern auch das Ergebnis historischer Prozesse und sozialer Praktiken, die über lange Zeiträume hinweg strukturiert wurden. Diese Praktiken, die oft als „selbstverständliche“ soziale Arrangements wahrgenommen werden, sind in Wirklichkeit das Ergebnis kollektiver Handlungen, die die sozialen Bedingungen und die Verteilung von Macht und Ressourcen kontinuierlich reproduzieren. Um Ungleichheit zu überwinden, müssen wir nicht nur die ökonomischen Verhältnisse ändern, sondern auch die sozialen und kulturellen Normen und Praktiken hinterfragen, die diese Ungleichheiten aufrechterhalten.

Wie entsteht soziale Ungleichheit und wie beeinflussen kollektive Praktiken unsere Wahrnehmung von Macht und Struktur?

Soziale Strukturen und Institutionen erscheinen oft als festgelegte, objektive Gegebenheiten, die den Einzelnen einschränken und beeinflussen. Diese Perspektive neigt dazu, zu übersehen, dass diese Strukturen nicht unabhängig von den Handlungen und Interaktionen der Menschen existieren. Vielmehr sind sie das kontinuierliche Ergebnis sozialer Praktiken, die ständig verhandelt, verändert und erneuert werden. Die Auffassung, dass soziale Akteure von einer distanzierten, autonomen Struktur konfrontiert werden, die unabhängig vom Individuum wirkt, wird in diesem Zusammenhang abgelehnt. Stattdessen wird die Gesellschaft als ein Netzwerk von unzähligen Interaktionen zwischen Menschen erklärt, die kontinuierlich die sozialen Institutionen und Normen produzieren und reproduzieren, denen sie angehören.

Die Theorie, dass soziale Ungleichheiten und Machtstrukturen in den Institutionen selbst eingebaut sind und den Einzelnen auf eine Weise einschränken, die er oder sie nicht vollständig erkennt, ist weit verbreitet. Jedoch zeigt eine genauere Analyse, dass diese Strukturen nicht unabhängig existieren, sondern im Verlauf kontinuierlicher sozialer Interaktionen entstehen. Institutionen wie Unternehmen, Regierungen oder wirtschaftliche Systeme sind nicht bloß vorgegebene Entitäten, die den Einzelnen prägen, sondern vielmehr das Ergebnis der ständigen Interaktion und des kollektiven Handelns der Individuen, die sie konstituieren. Diese Sichtweise stellt die sozialen Arrangements als dynamische Prozesse dar, die fortlaufend neu ausgehandelt und verändert werden.

Dieser kontinuierliche Produktionsprozess von sozialen Arrangements erfordert von den Akteuren eine reflexive, kalkulierende Wahrnehmung der Einschränkungen, die sie in ihren sozialen Interaktionen erfahren. So sind soziale Phänomene zwar einschränkend, doch der soziale Akteur ist sich dieser Einschränkungen oft bewusst und agiert in einem kontinuierlichen Bemühen, Bedeutung und Ordnung zu schaffen. Es ist entscheidend zu verstehen, dass Menschen nicht einfach passiv unter den Zwängen sozialer Strukturen leiden, sondern aktiv an deren Entstehung und Aufrechterhaltung beteiligt sind.

Im Zentrum dieser Theorie steht der Begriff der „Indeterminiertheit“ von sozialen Phänomenen. Dieser Begriff beschreibt die Unbestimmtheit von Bedeutung und sozialen Praktiken, die nur durch die Praxis selbst klarer und stabiler werden. Diese ambivalente Natur von sozialen Phänomenen wird in der täglichen Praxis durch aktives Handeln und Interaktion aufgelöst. Die soziale Ordnung ist das Ergebnis ständiger, praktischer Arbeit, bei der die Menschen Bedeutungen aushandeln, koordinieren und sanktionieren. Diese Arbeit ist nicht nur ein Nebenprodukt sozialer Praktiken, sondern bildet das Fundament, auf dem die soziale Ordnung basiert.

Ein weiterer wichtiger Punkt in diesem Kontext ist die situative Natur von Wissen und Bedeutung. Das Wissen, das wir über soziale Phänomene haben, ist immer praktisch und an die Bedürfnisse der Handlung gebunden. Das bedeutet, dass unser Wissen und unsere Wahrnehmung der Welt immer durch unsere praktischen Aktivitäten geformt werden. Dies steht im Gegensatz zu objektivistischen Ansätzen, die davon ausgehen, dass Wissen eine feste, von der Praxis unabhängige Wahrheit über die Welt darstellt.

Die Bedeutung dieser Perspektive für die Analyse von sozialer Ungleichheit liegt darin, dass sie den Fokus von starren, vorgegebenen Machtstrukturen hin zu den kontinuierlichen und dynamischen Prozessen verschiebt, die diese Strukturen erzeugen. Diese Perspektive legt nahe, dass soziale Ungleichheiten nicht einfach das Ergebnis von „strukturellen“ Faktoren sind, die den Einzelnen bestimmen, sondern dass sie in den praktischen, alltäglichen Interaktionen der Menschen entstehen und ständig neu verhandelt werden. Soziale Akteure sind nicht bloß passiv von sozialen Strukturen betroffen, sondern tragen aktiv zur Entstehung und Aufrechterhaltung dieser Strukturen bei.

Die Frage nach der Rolle des Individuums in der sozialen Ordnung und die Bedeutung von Macht und Ungleichheit muss daher im Kontext der kontinuierlichen sozialen Interaktionen und der praktischen Arbeit verstanden werden, die notwendig sind, um soziale Arrangements aufrechtzuerhalten. Es ist entscheidend, dass wir die Art und Weise verstehen, wie Menschen soziale Ordnung durch ihre kollektiven Praktiken erzeugen und wie diese Praktiken ständig neu verhandelt und verändert werden. Diese Perspektive bietet eine tiefere und differenziertere Sicht auf soziale Ungleichheit und die Dynamiken von Macht und Struktur als die traditionellen, auf statischen „Strukturen“ basierenden Ansätze.

Wie entsteht das Gefühl sozialer Ungleichheit, und warum bleibt es dennoch machtlos?

Das Gefühl, in einer Welt zu leben, die von fernen, unnahbaren Mächten gelenkt wird – Mächten, die keiner Rechenschaftspflicht unterliegen –, ist eine der prägendsten Empfindungen des modernen Menschen. Es ist ein Gefühl des Ertragens von Missachtung, Demütigung und Entwürdigung; ein Bewusstsein der Alternativlosigkeit, das mit der resignierten Einsicht einhergeht: „So ist die Welt eben“ und „Man kann ohnehin nichts ändern.“ Diese Haltung ist nicht bloß Ausdruck von Gleichgültigkeit, sondern eine tief verwurzelte soziale Erfahrung, die sich in alltäglichen Praktiken, Entscheidungen und stillen Aushandlungen wiederfindet.

Doch im Inneren dieser Resignation keimt ein anderes Empfinden – jenes der Empörung, der Ungerechtigkeit, der Wut über die Zumutungen einer Ordnung, die als ungerecht empfunden wird. Die Erfahrung der Ungleichheit ist somit doppeldeutig: Sie ist sowohl das Bewusstsein der Ohnmacht als auch der Ausgangspunkt von Widerstand. In ihr liegt die Erkenntnis, dass „sie nicht einfach damit durchkommen dürfen“ und dass „wir das nicht hinnehmen können“. Diese Ambivalenz zwischen Unterwerfung und Aufbegehren prägt die sozialen Dynamiken unserer Gegenwart auf eine Weise, die weder vollständig von der Macht noch von der Revolte bestimmt ist.

Es wäre ein Missverständnis, anzunehmen, Menschen irrten, wenn sie ihre sozialen Beziehungen als äußerlich, restriktiv oder unveränderlich empfinden. In vielen Fällen sind ihre Strategien des Handelns Formen der geschickten Anpassung, des Taktierens und Verhandelns in einem Umfeld, das als gegeben gilt. Diese Praktiken sind nicht Ausdruck von Passivität, sondern von einer realistischen Einschätzung der Kräfteverhältnisse, in denen sie sich bewegen. Die Menschen wissen, dass der Raum ihres Handelns begrenzt ist, und doch gestalten sie ihn – in kleinen, oft unsichtbaren Bewegungen – immer wieder neu.

Trotz dieser realistischen Akzeptanz bleibt das Potenzial des Wandels bestehen. Das Bewusstsein der Begrenztheit und die Erfahrung der Machtlosigkeit schließen den Wunsch nach Veränderung nicht aus. Sie sind vielmehr die Voraussetzung dafür, dass Kritik und Widerstand überhaupt entstehen können. Gerade aus der Erfahrung der Ungleichheit wächst die Fähigkeit, das scheinbar Unveränderliche infrage zu stellen. Die praktische Wirksamkeit solcher Kritik hängt jedoch stark von den individuellen und kollektiven Ressourcen ab, über die Menschen verfügen – von Bildung, sozialem Kapital, politischer Organisation und dem Zugang zu Räumen öffentlicher Artikulation.

Das Gefühl der Ungleichheit ist damit nicht bloß ein subjektives Leiden, sondern ein sozialer Prozess der Sinnbildung. Es formt Wahrnehmungen von Gerechtigkeit, legt Handlungsrahmen fest und beeinflusst, welche Formen des Protests oder der Anpassung als möglich erscheinen. Ungleichheit ist nicht nur eine materielle Tatsache, sondern ein permanenter Aushandlungsprozess zwischen dem, was ist, und dem, was sein sollte.

Wichtig ist zu verstehen, dass die Entstehung sozialer Ohnmacht und Ungleichheit nicht allein durch Strukturen erklärt werden kann, sondern durch die alltägliche Reproduktion dieser Strukturen in den Praktiken der Menschen selbst. Jede Form der Anpassung, jedes Schweigen, jedes kleine Zugeständnis trägt zur Stabilisierung des Systems bei, ebenso wie jede kleine Geste der Auflehnung seine Grenzen sichtbar macht. In diesem Spannungsfeld entsteht Geschichte – nicht durch heroische Umstürze, sondern durch die stillen, oft unbemerkten Bewegungen kollektiver Erfahrung.

Das Bewusstsein von Ungleichheit kann so zum paradoxen Motor sozialer Entwicklung werden: Es nährt einerseits die Akzeptanz bestehender Ordnungen, andererseits liefert es die emotionale Energie, sie zu überwinden. Was daraus folgt, hängt nicht allein von der Tiefe der Empörung ab, sondern von der Fähigkeit, sie in gemeinsames Handeln zu überführen. Denn Ungleichheit bleibt nicht bestehen, weil Menschen sie nicht erkennen – sie bleibt bestehen, weil sie gelernt haben, mit ihr zu leben.