Menschen erleben soziale Ungleichheit nicht als abstraktes System, sondern durch die alltäglichen Arrangements ihres Lebens. Ihre Wahrnehmung bleibt dadurch auf die unmittelbare soziale Umgebung beschränkt, auf vergleichbare Personen, mit denen sie sich identifizieren oder vergleichen. Diese alltägliche Praxis führt dazu, dass der tatsächliche Umfang gesellschaftlicher Ungleichheit verdeckt bleibt. Man vergleicht sich nicht mit den extrem Reichen oder extrem Benachteiligten, sondern mit jenen, die einem sozial ähnlich erscheinen. In diesem beschränkten Bezugsrahmen wird Ungleichheit normalisiert, unsichtbar gemacht – nicht unbedingt durch Ideologie, sondern durch die Struktur des Alltags selbst.
Manche Theorien sprechen von einer „nichtideologischen Komponente eines falschen Bewusstseins“: Praktische Erfahrung schränkt das Bewusstsein für zentrale Aspekte der sozialen Ordnung ein, ohne dass dies notwendigerweise durch bewusste Manipulation geschieht. Die Grenze der Wahrnehmung liegt im Alltäglichen. Kritik an dieser Sichtweise kommt aus pragmatistischer Perspektive: Sie betont, dass Wissen stets situationsgebunden und durch konkrete Handlungsmöglichkeiten geprägt ist – nicht notwendigerweise „falsch“, sondern funktional und begrenzt durch soziale Position.
Demgegenüber steht ein stärker ideologiekritischer Zugang: Hier wird argumentiert, dass Prozesse symbolischer Herrschaft – Hegemonie, kulturelle Dominanz – das Verständnis von Ungleichheit systematisch verzerren. Ungleichheit wird nicht nur übersehen, sondern aktiv legitimiert und naturalisiert. Dabei wird strukturelles Privileg als individuelle Leistung dargestellt, während Benachteiligung als persönliches Versagen erscheint. So werden Machtverhältnisse verschleiert und Akzeptanz erzeugt – nicht durch offene Repression, sondern durch die stille Internalisierung gesellschaftlicher Werte.
Diese „symbolische Gewalt“, wie sie Bourdieu nennt, wirkt tief: Subjektive Anpassungen an objektive Ungleichheit schlagen sich in Selbstwert, Ambitionen und affektiven Orientierungen nieder. Das bedeutet: Menschen, die systematisch benachteiligt werden, übernehmen Werte und Maßstäbe, die sie selbst abwerten. Die Verletzungen dieser Ungleichheit – die „verdeckten Wunden“ – schreiben sich in Körper, Sprache und Wahrnehmung ein. Der Möglichkeitsraum wird dadurch eingeschränkt: Was gedacht, gesagt oder erhofft werden kann, ist durch die Erfahrung von Unterordnung vorgeformt.
In der stärksten Form dieser Argumentation wird die soziale Welt so tief verinnerlicht, dass sogar Widerstand kaum artikulierbar wird. Menschen passen sich nicht nur an, sie akzeptieren, rechtfertigen und lieben ihre Lage – sie machen eine Tugend aus der Notwendigkeit. Diese Perspektive ist düster, ja pessimistisch, aber nicht unbegründet: Die Beständigkeit sozialer Ungleichheit spricht für ihre tief verankerte Legitimation.
Doch es bleibt eine Leerstelle: Wenn symbolische Herrschaft so wirkmächtig ist, wie lässt sich dann erklären, dass Protest, Kritik, sogar Auflehnung möglich sind? Die Legitimation ist nie vollständig, nie total. Sie ist durchzogen von Rissen, von Widersprüchen, von Unzufriedenheit. Empirisch zeigen sich diese Brüche in ungleichen Mustern der Akzeptanz: Die dominanten Gruppen internalisieren die herrschenden Ideologien tiefer als die benachteiligten. Deren Unmut wird nicht verhindert, sondern oft fehlgeleitet – in Scham, Anpassung oder konkurrierende Einzelinteressen. Das erklärt, warum Widerstand möglich, aber oft unkoordiniert und fragmentiert bleibt.
Trotz aller Versuche der symbolischen Einbindung bleibt die zentrale Frage bestehen: Warum hält sich Ungleichheit so hartnäckig? Vielleicht liegt der Schlüssel nicht nur in der Macht der Ideologie, sondern auch in
Wie die Meritokratie das Verständnis von Ungleichheit verzerrt und legitimiert
Im öffentlichen Diskurs und in politischen Debatten wird der Begriff der „Meritokratie“ fast ausschließlich positiv dargestellt (Littler, 2013, 2017). Wie McNamee und Miller (2004: Abs. 1–2) anmerken, beschreibt die Meritokratie das Prinzip, dass „man aus dem System das herausholt, was man hineinsteckt“. Diese Sichtweise hat jedoch einen entscheidenden Nachteil: Sie stellt die individuellen Aspekte der Ungleichheit übertrieben dar und unterschätzt dabei erheblich die strukturellen Komponenten wie Erbschaften, ungleiche Bildungsmöglichkeiten, den Wandel der Arbeitsmarktstruktur und Diskriminierung (ebd.). Infolgedessen wird die Meritokratie zu einem verzerrenden und legitimierenden „Mythos“, der die Art und Weise, wie Menschen belohnt werden, missversteht. Denn der Einfluss von Verdienst auf wirtschaftliche Ergebnisse wird „weit überbewertet“, vor allem, weil die „hochgradig verzerrte Verteilung der ökonomischen Ergebnisse“ „jede vernünftige Verteilung von Verdienst“ weit überschreitet (ebd.: Abs. 2, 5).
Sayer (2011: 13) betont, dass meritokratische Diskurse fälschlicherweise annehmen, „dass Erfolg bei der Erlangung eines guten Jobs und sozialer Mobilität für einige Individuen möglich ist, und daher Erfolg gleichzeitig für alle Individuen möglich sein muss“. Diese Vorstellung wird durch die Tatsache verstärkt, dass in den USA die Hochschulbildung zwar ausgebaut wurde, die Jobchancen jedoch überproportional im Niedriglohnsektor liegen, was bedeutet, dass die Wirtschaft „nicht so viele hochbezahlte Arbeitsplätze schafft, wie die Gesellschaft hochqualifizierte Menschen produziert, um sie zu besetzen“ (McNamee und Miller, 2004: Abs. 15). In ähnlicher Weise machen strukturelle Arbeitsmarktengpässe in den entindustrialisierten Arbeitsmärkten vieler lokaler Regionen es für viele Arbeitsuchende nahezu unmöglich, Arbeit zu finden. Dennoch haben neoliberale Regierungen „dies vermieden anzuerkennen und stattdessen den Arbeitslosen die Verantwortung für ihre Arbeitslosigkeit zugeschrieben“ (Sayer, 2012: 584–85).
Ein wesentlicher Fehler in dieser Betrachtungsweise ist die Fokussierung auf den Wettbewerb um Arbeitsplätze, ohne die zugrunde liegende Struktur des Arbeitsmarktes zu hinterfragen. Die ungleiche Verteilung von Arbeitsplätzen wird dabei als gegeben betrachtet, ohne auf die sehr unterschiedliche Strukturierung von Arbeitsplätzen in „gute“ und „schlechte“ Arbeitsverhältnisse einzugehen. Dieser Zustand führt zu einer Form der „beitragsbezogenen Ungerechtigkeit“ (Gomberg, 2016), bei der die „hochgradig ungleiche Arbeitsteilung“ es einigen Menschen nicht nur erschwert, ihre Fähigkeiten zu entwickeln, sondern auch ihre Möglichkeit einschränkt, Erfüllung, Respekt und Selbstwert zu finden (Sayer, 2011: 17). Laut Sayer (2011: 9; 2012: 586) ist die Art und Weise, wie die ungleiche Arbeitsteilung die Beiträge der Menschen einschränkt, „mindestens ebenso wichtig wie das, was sie an Ressourcen erhalten“. Dennoch erkennen die meisten Menschen – einschließlich Sozialwissenschaftler – diese Problematik nicht in der breiteren formalen Wirtschaft, in der sie institutionell verankert und naturalisiert ist. Diese Ungleichheit wird nahezu als selbstverständlich angesehen, obwohl sie tiefgreifende Auswirkungen auf das Leben der Menschen hat.
Diskurse zur Meritokratie neigen dazu, Ungleichheit zu naturalisieren, da sie „Chancengleichheit“ als individuelle Verantwortung darstellen. Dabei wird die Auseinandersetzung mit Ungleichheit als eine moralische Aufgabe des Einzelnen dargestellt, was die Vorstellung fördert, dass der Erfolg des Einzelnen einzig und allein durch persönliche Anstrengung und Talent bestimmt wird (Littler, 2013: 64, 65). Diese Sichtweise legitimiert den Erfolg der Privilegierten und dient als „ein wichtiges Mittel, durch das Plutokratie in der zeitgenössischen neoliberalen Kultur durch Täuschung unterstützt wird“ (Littler, 2013: 54, 52). Es sind vor allem die wirtschaftlichen Eliten, die am stärksten an die Meritokratie glauben, da sie ihren Erfolg auf persönliche Fähigkeiten und harte Arbeit zurückführen. Geringer gestellte Gruppen sind jedoch oft skeptischer gegenüber der Vorstellung einer vollkommen meritokratischen Gesellschaft. Die kulturellen Eliten in Großbritannien betonen häufig ihren eigenen Talent- und Fleißanspruch, trotz der offensichtlichen strukturellen Ungleichheiten in diesem Sektor, wie etwa der überproportionalen Vertretung von Personen aus höheren sozialen Schichten und der Unterrepräsentation von Frauen und ethnischen Minderheiten (Taylor und O’Brien, 2017).
Ein weiterer Aspekt ist, dass diejenigen in den privilegiertesten Positionen häufig den stärksten Glauben an die Meritokratie haben. Sie sind nicht nur eher geneigt, den Erfolg auf Talent zurückzuführen, sondern auch eher bereit, strukturelle Faktoren, die zum Erfolg beitragen, zu leugnen (Taylor und O’Brien, 2017: 40, 27–28, 44). Gleichzeitig sind es diejenigen, die am schlechtesten bezahlt werden und die prekärsten Arbeitsverhältnisse haben, die sich der strukturellen Ungleichheit am bewusstesten sind und verstehen, wie diese den Zugang zu verschiedenen Sektoren einschränken (ebd.: 27; McRobbie, 2015).
Die meritoristische Erzählung wird häufig von der Elite verwendet, um ihren Erfolg als das Resultat harter Arbeit und Talent darzustellen, während gleichzeitig die Bedeutung von Erbschaft, sozialen Verbindungen und finanziellem Kapital verschwiegen wird. Wohlhabende finnische Unternehmer betonten beispielsweise ihre eigene Risikobereitschaft und Ausdauer, während sie diejenigen, die weniger wohlhabend sind, als „faul“ und „unproduktiv“ bezeichneten (Kantola und Kuusela, 2018). Trotz ihrer Zugehörigkeit zur obersten Einkommensschicht sahen sich diese Unternehmer als „gewöhnliche Leute“ aus „bescheidenen Verhältnissen“, was nicht nur die Vorstellung von harter Arbeit als Erfolgsgarant festigt, sondern auch die realen Mechanismen der sozialen Mobilität ignoriert.
Interessanterweise haben die Wohlhabenden oft ein verzerrtes Bild ihrer eigenen sozialen Stellung. So glauben etwa rund 70 % der Schweden, sie seien ärmer als sie tatsächlich sind, während Menschen mit niedrigerem Einkommen ihre soziale Position viel genauer einschätzen können (Karadja, Mollerstrom und Seim, 2017). In vielen Ländern des Globalen Südens haben Eliten eine ähnliche Sichtweise: Sie betrachten Bildung als den wichtigsten Hebel zur Bekämpfung von Armut, ohne ihre eigenen strukturellen Privilegien infrage zu stellen. Diese Haltung verstärkt die Meritokratie, indem sie Armut als Folge des Fehlens von Initiative oder Unternehmertum bei den Armen darstellt.
Die Kritiker des Meritokratie-„Mythos“ sehen diese Sichtweise als eine Fehleinschätzung der wahren Ursachen von Ungleichheit. Wenn soziale Ungleichheiten individualisiert werden, verschwinden die strukturellen Vorteile der dominanten Gruppen aus der Sicht und werden als Zeichen von überlegener Anstrengung und Fähigkeit dargestellt, während die Benachteiligung von weniger privilegierten Gruppen als Folge ihrer eigenen Mängel angesehen wird. Diese Verzerrung durch die Meritokratie ist ein wesentliches Element, das die strukturelle Ungleichheit unsichtbar macht und die wahren Ursachen von Armut und sozialer Ausgrenzung verschleiert.
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