Die Kluft zwischen der intendierten Bedeutung eines Zeichens und seiner Wahrnehmung durch den Rezipienten bildet einen produktiven Raum für Widerstand und kreative Neudeutung. Stuart Hall hat eindrucksvoll gezeigt, dass gerade dieses Spannungsfeld, beispielsweise im Kontext des Fernsehens, der Ausgangspunkt für alternative Deutungen ist. Menschen sind keine passiven Empfänger, sondern interpretieren Medieninhalte anhand ihrer eigenen Erfahrungen und Erwartungen, was zu radikal unterschiedlichen, aber gleichermaßen plausiblen Bedeutungen führen kann. Diese Differenz – oder „Lücke“ – zwischen Sender- und Empfängerzeichen ist kein bloßer Mangel oder Fehler, sondern eine produktive Möglichkeit, um Bedeutung neu zu gestalten und für bestimmte Zwecke zu nutzen.

Dieses Konzept wird besonders relevant im Hinblick auf die rhetorische Theorie der „Erfindung“ (inventio), wie sie von Aristoteles beschrieben wird. Erfindung bezeichnet hier nicht eine technische Neuerung, sondern die kreative Suche nach geeigneten Argumenten und Ausdrucksformen, die in einem konkreten Moment überzeugen können. Rhetorische Überzeugung ist daher keine starre Technik, sondern ein dynamischer Prozess, der sich an die jeweils spezifischen Umstände anpasst. Die „Lücke“ zwischen den Zeichen des Sprechers und denen des Zuhörers ist genau der Raum, in dem diese Erfindung stattfindet – dort werden Bedeutungen transformiert und neu verhandelt.

Ein eindrucksvolles Beispiel dafür liefert Bertolt Brechts Gedicht „Der demokratische Richter“, interpretiert von den Übersetzungswissenschaftlern Boris Buden und Stefan Nowotny. Ein italienischer Immigrant in den USA, der die Sprache nicht spricht, versucht vergeblich, durch die üblichen Fragen des Einbürgerungstests zu kommen. Er antwortet stets mit „1492“, da er die Fragen nicht versteht. Erst als der Richter, der keine Sprachkenntnisse vom Mann erwarten kann, seine wirtschaftliche Situation erfragt und erkennt, dass der Mann durch harte Arbeit seinen Lebensunterhalt verdient, stellt er eine Frage, die der Mann korrekt beantworten kann: „Wann wurde Amerika entdeckt?“ – mit der Antwort „1492“. Auf dieser Basis gewährt der Richter die Staatsbürgerschaft.

Dieses Beispiel illustriert, wie ein Akteur innerhalb der durch Institutionen und Normen gesetzten Grenzen kreative Lösungen findet, um den Anderen einzubeziehen. Der Richter nutzt die veränderte Bedeutung des Zeichens „1492“, das sich im Laufe der Begegnungen erweitert hat, um eine inklusive Geste zu setzen. Die Differenz zwischen den Bedeutungen wird nicht als Hindernis, sondern als Ressource verstanden, um eine neue Form der Verständigung zu ermöglichen und soziale Zugehörigkeit herzustellen.

Die Bedeutung dieser „Logik der Substitution und Transformation“ geht über den Einzelfall hinaus. In einer Welt, die durch kulturelle und soziale Differenzen geprägt ist, eröffnet sie einen ethisch bedeutsamen Handlungsspielraum. Sie zeigt, wie Kommunikation nicht nur rezipiert, sondern aktiv gestaltet wird – mit dem Ziel, Grenzen zu überschreiten und gemeinsame Bedeutungen zu schaffen, die Inklusion ermöglichen.

Wichtig ist zu verstehen, dass solche Prozesse der Bedeutungsverschiebung nicht willkürlich sind, sondern auf situativen Einschätzungen und kreativer Anpassung beruhen. Sie erfordern Empathie, Sensibilität und die Fähigkeit, mit Unsicherheiten umzugehen. Dies ist eine Fähigkeit, die gerade in polarisierten Gesellschaften entscheidend ist, um Dialoge zu eröffnen und kulturelle Übersetzungen zu ermöglichen. Die rhetorische Erfindung wird so zu einem Werkzeug, das nicht nur Überzeugung anstrebt, sondern auch sozial integrativ wirkt.

Wie lässt sich kulturelle Übersetzung denken, ohne sie zur Waffe zu machen?

Kulturelle Übersetzung beginnt als theoretische Geste – ein Versuch, die Welt zu erklären, um sie verstehbar zu machen. Doch diese Erklärung ist niemals abgeschlossen. Sie muss geprüft, infrage gestellt, verbessert werden. Theorie, verstanden nicht als abgeschlossenes System, sondern als ein bewegliches Denken, lebt von dieser ständigen Revision. Der Weg vom ersten Axiom – Theorie als Erklärung – über seine Prüfung und Korrektur bis hin zur Einsicht in ihre inhärente Fehlbarkeit führt zu einer dritten Erkenntnis: Theorie ist nur dann tragfähig, wenn sie ihre eigenen Lücken erkennt und sich transformiert, indem sie das aufnimmt, was sie zuvor ausgeschlossen hat.

Diese Bewegung des Denkens – von Erklärung über Kritik zur Verfeinerung – ist jedoch nicht nur theoretischer Natur. Sie ist eine ethische Haltung. Denn kulturelle Übersetzung, in ihrer produktivsten Form, ist eine Form der Beziehung. Sie setzt voraus, dass wir dem Anderen begegnen, ohne ihn uns einzuverleiben. Dass wir bereit sind, nicht nur unsere Begriffe, sondern unsere Perspektiven zu destabilisieren – und dass wir aushalten, dass unser Gegenüber nicht einfach wie wir ist.

Die Spannung zwischen Inklusion und Exklusion durchzieht jede Form kultureller Übersetzung. Dieselbe Geste, die Brücken schlagen kann, kann auch zur Waffe werden. Wenn wir anderen begegnen mit dem Anspruch, sie verstehen zu wollen, laufen wir Gefahr, sie in unsere eigenen Deutungsraster zu pressen. In dem Moment, in dem wir sagen: „Du bist doch wie ich“, besteht das Risiko, dass wir das Fremde tilgen, anstatt es anzuerkennen. Die Ethik der Übersetzung beginnt dort, wo wir aufhören, uns selbst als Maßstab zu nehmen.

In dieser Perspektive ist Theorie nicht nur ein Werkzeug zur Weltdeutung, sondern ein Modus der Verantwortlichkeit. Die drei Axiome – Erklärung, Prüfung, Verfeinerung – gelten nicht nur für das, was Theorie ist, sondern auch für das, was Metatheorie sein kann. Auch unsere Theorien über Theorie, unsere Denkrahmen, sind fehlbar. Wenn wir die Axiome selbst als Erklärung unseres Weltverhältnisses begreifen, sehen wir, dass sie uns zu einer ethischen Wachsamkeit aufrufen. Nicht nur gegenüber dem, was wir sagen – sondern auch gegenüber dem, was wir über das Sagen denken.

Diese Wachsamkeit impliziert keine vorsichtige Zurückhaltung, sondern eine Bereitschaft zum Sprung. Zum Sprung in Situationen, die sich unserer Erwartung entziehen. Wir improvisieren, reagieren, stellen uns ein. Der „Sprung hinein“ ist keine Geste der Flucht vor Theorie, sondern ihr konsequentester Vollzug: Theorie als Praxis in einem offenen Feld.

Kulturelle Übersetzung wird so zum Ort einer ethischen Entscheidung. Denn Kommunikation, wie John Durham Peters betont, ist nie neutral. Sie ist immer Beziehung. Selbst wenn wir mit uns selbst sprechen, tun wir dies in der Vorstellung eines Anderen. Kommunikation ist daher unauflöslich mit Fragen der Ethik, der Politik, des Sozialen verbunden. Wo zwei Menschen einander begegnen, ist die Frage nach dem richtigen Handeln nicht zu vermeiden.

Diese ethische Dimension manifestiert sich besonders dort, wo kulturelle Übersetzung zum politischen Werkzeug wird. Der Unterschied zwischen inklusiver Öffnung und repressiver Instrumentalisierung liegt nicht in der Technik, sondern in der Haltung. Wer übersetzt, um andere zu kontrollieren, gleicht der Partei in Orwells „1984“, die ihre Wahrheit mit Gewalt durchsetzt. Wer hingegen bereit ist, sich selbst infrage zu stellen – wie der Richter bei Brecht, der offen bleibt für die Möglichkeit seines Irrtums –, der handelt im Sinne einer Ethik der Übersetzung.

Diese Ethik ist keine Morallehre, sondern ein Bewusstsein für die Ambivalenz von Macht und Bedeutung. Denn kulturelle Übersetzung bewegt sich im Spannungsfeld dieser beiden Kräfte. Macht formt Bedeutung – durch soziale Strukturen, durch Geschichte, durch Diskurs. Und Bedeutung wiederum wirkt auf Macht zurück, indem sie bestimmt, was sichtbar, sagbar, denkbar ist.

Was in bisherigen Erklärungsansätzen zu kurz kam, war der Umstand, dass wir nicht nur Konzepte bilden, sondern auch handeln. Und dass unser Handeln Wert hat. Kulturelle Übersetzung betrifft nicht nur, wie wir die Welt sehen, sondern auch, wie wir in ihr leben. Sie fordert nicht nur Verständnis, sondern Haltung. Und diese Haltung – das zeigt die gesamte Bewegung dieser Theorie – ist eine des Zuhörens, der Offenheit, der Bereitschaft, sich korrigieren zu lassen.

Wichtig ist, dass kulturelle Übersetzung nicht nur eine kognitive, sondern eine leiblich-situative Praxis ist. Sie geschieht im Moment, im Kontakt, im Risiko des Missverstehens. Deshalb braucht sie keine vollständige Theorie, sondern ein Gespür für Unvollständigkeit. Sie verlangt keine totalen Erklärungen, sondern ein Ethos der Fragmentarität. Sie kann scheitern – aber gerade dieses Scheitern macht sie menschlich.