Der Begriff „Amok“ hat seinen Ursprung in einer spezifischen Kampfweise malaiischer Krieger, die ohne Rücksicht auf ihr eigenes Überleben in wilder Raserei auf den Feind zustürmten, dabei töteten und den Kriegsschrei „Amok“ ausriefen. Dieses historische Bild prägt bis heute die Bedeutung des Wortes: ein spontaner, unvorhersehbarer Ausbruch blinder Gewalt, oft mit tödlichem Ausgang. Die Weltgesundheitsorganisation definiert „amok running“ als eine scheinbar unbegründete, zerstörerische Episode mit schwerwiegender Gewaltanwendung gegen andere. Diese Definition unterscheidet sich grundlegend von politisch motivierten Taten wie dem Terrorismus.
Oft ist in öffentlichen Debatten eine unpräzise Gleichsetzung von Terrorakten und Amokläufen zu beobachten. Beide Formen der Gewaltanwendung erzeugen Schrecken, fordern Opfer und erregen mediale Aufmerksamkeit. Doch die Gemeinsamkeiten bleiben oberflächlich. Der fundamentale Unterschied liegt in der Intention: Während terroristische Gewalt gezielt eingesetzt wird, um politische Ziele zu verfolgen, richtet sich der Amoklauf auf eine tief persönliche, häufig von Ohnmacht, Rache oder Selbsthass getriebene Motivation. Der Amoklauf ist ein individualpsychologisches Phänomen, kein strategisches Mittel im Dienste einer kollektiven Ideologie.
Terroristen handeln mit dem Ziel, durch symbolische Gewaltakte gesellschaftliche Umwälzungen herbeizuführen, staatliche Strukturen zu destabilisieren oder ideologische Botschaften zu verbreiten. Die Opferwahl ist dabei oft nicht zufällig: gezielt werden Minderheiten, politische Gegner oder Repräsentanten des verhassten Systems angegriffen. Im Gegensatz dazu erscheint das Handeln von Amokläufern meist irrational – ihre Opfer sind oft Personen aus dem unmittelbaren Umfeld, etwa Mitschüler, Kollegen oder Familienangehörige, die im subjektiven Erleben des Täters eine Rolle in dessen Kränkung oder Isolation spielten.
Richard Albrecht beschreibt den Amoklauf als emotionale Entgleisung, einen Zustand enthemmter Wut, in dem der Täter „wie im Rausch“ handelt, bis er sich selbst tötet, aufgehalten oder getötet wird. Die Tat ist Ausdruck einer inneren Explosion, nicht das Ergebnis einer politischen Kalkulation. Dennoch ist die Trennlinie nicht immer klar zu ziehen. Eric Gujer weist zu Recht darauf hin, dass die Unterscheidung zwischen pathologischem Wahn und ideologisch motivierter Gewalt in der Realität häufig verschwimmt. Diese Differenzierung ist jedoch entscheidend, da sie unmittelbare Auswirkungen auf strafrechtliche Bewertungen, gesellschaftliche Reaktionen und die Perspektive der Opfer hat.
So zeigt der Fall David Sonboly, der 2016 in München neun Menschen erschoss, wie problematisch die vorschnelle Kategorisierung sein kann. Zunächst wurde seine Tat als Amoklauf gedeutet, doch spätere Erkenntnisse legen eine ideologisch motivierte Tat mit rechtsextremen Hintergründen nahe. Der Bruder eines Opfers betonte die Bedeutung einer genauen Einordnung – nicht zuletzt im Sinne der Opfer und ihrer Angehörigen.
Die idealtypische Unterscheidung offenbart klare Kontraste: Terrorismus verfolgt langfristige politische Ziele, ist ideologisch aufgeladen, rational in der Opferwahl und strebt nach Öffentlichkeitswirkung. Amok hingegen ist impulsiv, persönlich motiviert, irrational in der Zielauswahl und oft mit suizidalen Tendenzen verbunden. Während Terroristen strategisch agieren, um Nachahmer zu inspirieren oder ein politisches Klima zu verändern, inszenieren Amokläufer ihr Tun häufig als letzten, verzweifelten Akt der Selbstdarstellung und Rache an der Welt.
Ein besonderes Problem entsteht, wenn pathologische Zustände und ideologische Inhalte vermischt auftreten. In solchen Fällen besteht die Gefahr, dass die psychische Störung als alleinige Ursache herangezogen wird – was eine Entpolitisierung des Geschehens bedeutet. Dadurch wird nicht nur die Verantwortung des Täters relativiert, sondern auch das gesellschaftliche Umfeld aus der Analyse verdrängt. Die Diagnose „psychisch krank“ kann somit zur Entlastungsformel werden, die strukturelle Ursachen, etwa Rassismus, Ausgrenzung oder soziale Desintegration, überdeckt.
Der Anschlag in El Paso im August 2019 liefert ein Beispiel für diesen Grenzfall. Der Täter tötete gezielt Menschen lateinamerikanischer Herkunft und rechtfertigte seine Tat in einem Manifest mit fremdenfeindlichen und völkischen Argumenten. Obwohl die Handlung Züge eines Amoklaufs trug, wurde sie aufgrund der klaren politischen Motivation als rechtsterroristischer Akt eingestuft. Der Fall zeigt, wie essenziell eine differenzierte Analyse ist, um der Tat gerecht zu werden – und nicht zuletzt, um gesellschaftlich adäquat reagieren zu können.
Wichtig ist, die emotionale und soziale Dimension solcher Gewalttaten nicht zu unterschätzen. Der Täter mag individuell handeln, doch sein Handeln ist oft in kollektiven Narrativen, in Feindbildern und Ideologien verankert, die von Teilen der Gesellschaft geteilt oder zumindest geduldet werden. Gerade deshalb ist eine rein psychologische Erklärung unzureichend. Gewaltakte wie Amokläufe oder Terroranschläge entstehen nicht im luftleeren Raum. Sie sind Ausdruck tiefer gesellschaftlicher Spannungen, ungelöster Konflikte und oftmals gescheiterter Integrationsprozesse. Eine nachhaltige Prävention setzt daher nicht nur auf Sicherheitsmaßnahmen, sondern auf eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den sozialen, kulturellen und politischen Bedingungen, die solche Taten ermöglichen.
Wie die Biographie von Brenton Tarrant den rechten Terrorismus prägte
Brenton Tarrant, der Täter des Terroranschlags auf zwei Moscheen in Christchurch, Neuseeland, im Jahr 2019, hatte eine scheinbar gewöhnliche Kindheit. Geboren und aufgewachsen in Grafton, einer kleinen Stadt im Nordosten des australischen Bundesstaates New South Wales, war sein Leben von einer Reihe von prägendem Ereignissen und inneren Konflikten durchzogen. Diese Ereignisse, gepaart mit seinen persönlichen und ideologischen Entwicklungen, führten ihn schließlich zu einer radikalen Wendung und einem brutalen Akt der Gewalt, der die Welt erschütterte.
Tarrant wuchs in einem familiären Umfeld auf, das von dem frühen Tod seines Vaters, Rodney, überschattet wurde. Rodney, ein leidenschaftlicher Sportler und mehrfacher Teilnehmer am Ironman-Wettkampf, nahm sich das Leben, nachdem er an unheilbarem Krebs erkrankt war. Tarrant war 19 Jahre alt, als er den leblosen Körper seines Vaters fand. Dieser Verlust stellte einen tiefen emotionalen Einschnitt in sein Leben dar und beeinflusste seine spätere psychische Verfassung. In seinem Manifest schrieb Tarrant, dass er das Gefühl hatte, seine Kindheit sei durch den frühen Tod seines Vaters zerstört worden. Diese traumatische Erfahrung prägte ihn in einer Weise, die später zu seiner Radikalisierung führte.
Vor diesem Hintergrund war Tarrant in seiner Jugend unauffällig. Er wuchs in einem kleinen Ort auf, der keine größeren ethnischen oder religiösen Spannungen aufwies, und verbrachte viel Zeit mit Video- und Computerspielen. Er war introvertiert und zeigte wenig Interesse an schulischen Leistungen oder einer akademischen Karriere. Trotz dieser Unauffälligkeit entwickelte er eine zunehmende Besessenheit von Fitness und Körperkultur, was sich in seiner Tätigkeit als Personal Trainer widerspiegelte. Während dieser Zeit pflegte er ein Bild von sich als "Monster des Willens" und erlangte ein gewisses Maß an Selbstbewusstsein, das ihn im Internet und in sozialen Medien verstärkt zur Schau stellte.
Doch Tarrant hatte Ambitionen, die weit über den normalen Alltag hinausgingen. Er hatte sich mit Kryptowährungen beschäftigt und soll durch eine Investition in Bitconnect ein kleines Vermögen gemacht haben, was seine Selbstwahrnehmung verstärkte und ihm eine Art Größenwahn verlieh. Diese neue finanzielle Unabhängigkeit führte ihn dazu, eine Weltreise zu unternehmen. In den Jahren 2011 bis 2014 bereiste er verschiedene Länder und suchte nach Orten mit historischen Bezügen zu europäischen Kriegen und Konflikten. Besonders auffällig ist seine Reise in das totalitäre Nordkorea, wo er sich in einer Gruppe von Touristen in einer Art grotesker Fremdheit ablichten ließ.
Diese Reisen und das verstärkte Studium der Geschichte, insbesondere der "Kreuzzüge" gegen den Islam, gaben seiner wachsenden rechtsextremen Ideologie Nahrung. In seinem Manifest und in Online-Kommentaren stellte er sich zunehmend als Teil einer "weißen Rasse" dar, die gegen die Bedrohung durch den Islam und die Massenmigration kämpfte. Er besuchte Orte, die historische Bedeutung im Kontext des Osmanischen Reiches und der Abwehrkämpfe gegen den Islam hatten, wie etwa in Serbien, Montenegro und Ungarn. Besonders markant ist, dass er auf seinen Waffen und Magazinen Namen und Logos von historischen Figuren anbrachte, die in der Vergangenheit gegen Muslime kämpften, darunter auch der Name „Turkofagos“, was so viel bedeutet wie „der, der Türken isst“.
Tarrants Manifest enthält zudem Verweise auf zwei Schlüsselmomente, die ihn besonders beeinflussten: den Mord an Ebba Åkerlund bei einem islamistischen Terroranschlag in Stockholm und die französischen Präsidentschaftswahlen von 2017. Diese Ereignisse verstärkten seine Wut und trugen zur endgültigen Entfaltung seiner gewalttätigen Ideologie bei. Tarrant, der in den sozialen Medien und in extremistischen Foren aktiv war, nahm schließlich die Entscheidung, seine radikale Ideologie in die Tat umzusetzen.
Es ist entscheidend zu erkennen, dass Tarrants Radikalisierung ein schrittweiser Prozess war, der durch eine Kombination aus persönlichen Traumata, ideologischen Einflüssen und der Verherrlichung von Gewalt und Krieg vorangetrieben wurde. Diese Entwicklungen geschahen in einer Welt, die zunehmend von extremistischen Online-Foren, Verschwörungstheorien und ideologisch aufgeladenen politischen Bewegungen geprägt war. Der Einfluss solcher ideologischer Strömungen darf nicht unterschätzt werden, da sie in der Lage sind, eine ohnehin schon verwirrte und verletzte Persönlichkeit zu manipulieren und in den Abgrund des Terrorismus zu führen.
Tarrant ist nicht der einzige Fall dieser Art. Seine Biografie zeigt, wie leicht eine junge Person in die Fänge eines radikalen Weltbildes geraten kann, wenn sie mit persönlichen Verlusten, Unsicherheiten und einer Suche nach Identität und Zugehörigkeit konfrontiert wird. Die Auswirkungen von Traumata, das Fehlen einer stabilen sozialen Unterstützung und der Drang, sich in einer Welt voller Unsicherheit zu positionieren, spielen eine wesentliche Rolle in der Entstehung solcher Gewaltakte.
Es ist wichtig zu verstehen, dass hinter diesen Taten nicht nur ideologische Überzeugungen stehen, sondern auch tiefsitzende psychologische und soziale Faktoren, die eine radikale Entwicklung begünstigen. Dies betrifft nicht nur die direkte Umgebung des Täters, sondern auch die breite gesellschaftliche und kulturelle Landschaft, die extremistische Ideen fördert und ermöglicht. In vielen Fällen finden solche Täter in ihrem Online-Verhalten Bestätigung und Unterstützung, wodurch sie sich zunehmend isolieren und von der Gesellschaft entfremden.
Warum sind Lone-Wolf-Terroristen keine bloßen psychisch Kranken?
Die Vorstellung, dass terroristische Einzelakteure lediglich psychisch kranke Menschen seien, verkennt das komplexe Zusammenspiel psychischer Disposition, sozialer Isolation und ideologischer Radikalisierung. Die Täter, um die es hier geht, waren weder „verrückt“ im klinischen Sinne noch handelte es sich um unreflektierte Gewalttäter ohne bewusste Motivation. Vielmehr zeigen ihre Biografien einen eigenartigen, oft von frühester Kindheit an abweichenden Lebensverlauf, durchzogen von psychischen Auffälligkeiten, dysfunktionalen Familienstrukturen, tiefgreifender sozialer Entfremdung und schließlich einer selbstkonstruierten Ideologie der Gewalt.
Die psychologischen Profile dieser Täter sind komplex, facettenreich und medizinisch teilweise diagnostiziert. Viele zeigen Züge von Persönlichkeitsstörungen – narzisstisch, paranoid, schizoid, zwanghaft, antisozial oder borderline – wobei die Übergänge fließend sind. Der Täter wird nicht selten als ambitioniert, empfindlich, manipulierend, misstrauisch oder gar fanatisch beschrieben. Gemein ist ihnen allen ein ausgeprägtes Defizit an Empathie, eine nicht selten pathologische Selbstbezogenheit und eine durch Kränkung gespeiste Feindseligkeit gegenüber ihrer Umwelt.
Entgegen des medialen Klischees vom tumben, gewaltbereiten Neonazi waren diese Täter keineswegs unintelligent. Viele verfügten über durchschnittliche oder gar überdurchschnittliche kognitive Fähigkeiten, jedoch fehlte es an sozialer Resonanz, an eingebetteter Lebenswirklichkeit. Die Täter stammen aus westlichen Gesellschaften, sind also keine „importierten Gefährder“, sondern Produkte der eigenen sozialen Landschaft. Sie sind „homegrown“, geboren und aufgewachsen in westlichen Demokratien – das unterscheidet sie grundlegend von vielen islamistischen Kämpfern.
Auffällig ist, dass viele Täter bereits in der Kindheit durch psychische Störungen wie Autismus oder depressive Episoden diagnostiziert wurden. Häufig finden sich zerrüttete Familienverhältnisse, problematische Elternhäuser, fehlende Vorbilder. Ihre Sexualität ist oft ungeklärt oder unterdrückt, Beziehungen zu Frauen fehlen oder sind von Hass und Ablehnung geprägt. Der Mangel an sozialer Integration – gemessen an Kontakten zu Familie, Freunden, Nachbarschaft oder Gemeinschaften – ist bei nahezu allen extrem ausgeprägt. Der Psychiater Norbert Nedopil spricht in diesem Zusammenhang von einem chronischen Mangel an „sozialer Resonanz“. Diese Isolation erzeugt einen inneren Rückzug, der nicht selten mit einer ideologisch aufgeladenen Parallelwelt kompensiert wird.
Die statistische Wahrscheinlichkeit, dass eine psychische Erkrankung zu terroristischem Handeln führt, ist verschwindend gering. In den USA etwa litten 2010 rund 60 Millionen Menschen an psychischen Erkrankungen. Nur drei von ihnen wurden als Lone-Wolf-Terroristen identifiziert. Daraus ergibt sich eine Wahrscheinlichkeit, die niedriger ist als ein Blitzschlag. Psychische Krankheit allein erklärt also nichts – vielmehr bedarf es weiterer Faktoren, vor allem ideologischer Struktur.
Die entscheidende Triebfeder ist letztlich eine radikale Ideologie des Hasses, die nicht nur motiviert, sondern auch zur konkreten Tat führt. Der Täter stilisiert sich selbst zum Vollstrecker einer „Reinigung“, zum Beschützer einer bedrohten „Volksgemeinschaft“, zum Rächer der Entrechteten. Die Motive sind selten zufällig, sondern in einer durch Ideologie stabilisierten Weltsicht tief verankert. Es geht um Ausgrenzung, um rassisch konnotierte Überlegenheit, um die Vernichtung der als fremd markierten „Anderen“. Dieses Selbstbild geht weit über bloße psychische Störungen hinaus.
David Sonboly, der Attentäter von München, hatte Monate vor seiner Tat in einem Chat die Dynamik selbst erklärt: Die Täter seien keine islamistischen Terroristen, sondern Menschen, die „einfach Amok laufen“, um Aufmerksamkeit zu erlangen. Aufmerksamkeit ist in der Tat ein zentrales Motiv. Doch dabei bleibt es nicht. Die Täter zielen nicht nur auf Zerstörung – sie wollen Wirkung erzeugen, eine neue politische Realität erzwingen, Angst säen und Nachahmer inspirieren. Sie handeln planvoll, diszipliniert, mit kaltblütiger Zielstrebigkeit – Eigenschaften, die klassisch psychisch Kranken so nicht zugeschrieben werden können.
Ihre Tat ist gleichzeitig ein Statement, ein Manifest, ein Ruf nach Deutungshoheit. Dabei verschmelzen narzisstische Kränkungen mit einer ideologischen Überhöhung des eigenen Ichs. Sie begreifen sich nicht als Täter, sondern als Akteure einer notwendigen politischen Transformation. Die Gewalt ist kein Ausbruch der Verzweiflung, sondern Ausdruck eines durchgeplanten Weltbildes, das sich aus rassistischen, nationalistischen und autoritären Elementen speist.
Wichtig ist, den Autodidaktismus dieser Täter nicht zu unterschätzen. Sie bilden sich selbst weiter, analysieren die Taten anderer, lesen wissenschaftliche Werke über Amokläufe, Terrorismus und Psychologie. Sie vergleichen sich, messen sich, imitieren. Die Tat ist nie nur individuell – sie ist stets Teil eines größeren Narrativs. Genau darin liegt die eigentliche Gefahr: dass ihre Gewalt nicht irrational ist, sondern rationalisiert, begründet, wiederholbar.
Es reicht nicht, diese Täter auf psychiatrische Fälle zu reduzieren. Wer dies tut, verkennt die politische Dimension ihrer Tat, verharmlost die ideologische Struktur, die ihnen Richtung und Rechtfertigung gibt. Die Triebkräfte dieser Gewalt liegen nicht nur im Inneren eines gestörten Geistes, sondern in einem gesamtgesellschaftlichen Umfeld, das solche Radikalisierungsprozesse ermöglicht, duldet oder gar fördert.
Wie beeinflusst die globale Online-Gaming-Subkultur politische Radikalisierung und welche Risiken birgt sie?
Seit geraumer Zeit existiert eine global vernetzte Online-Subkultur, die sich über nationale Grenzen hinweg ausdehnt und stark interaktiv ist. Aktivisten und Einzelpersonen brauchen dazu nicht physisch an einen Ort zu reisen, keinen Krieg zu führen oder ein Leben im Verborgenen zu führen – ein Computer und eine Internetverbindung genügen. Diese Realität erfordert verstärkte Aufmerksamkeit, auch wenn die Industrie selbst die politischen Risiken häufig zu unterschätzen scheint. Felix Falk, Geschäftsführer des Verbands der deutschen Videospielbranche GAME, sieht in der Nutzung von Spielen keine Gefahr, dass diese unabsichtlich als Vehikel für Radikalisierung dienen könnten. Seiner Ansicht nach seien die Interaktionen zwischen Spielern eher als Absprachen und Übereinkünfte zu verstehen, nicht als politische Debatten. Außerdem gäbe es nur wenige Spiele mit der Möglichkeit zur direkten Kommunikation, die zudem üblicherweise von Moderatoren überwacht und kontrolliert werde.
Diese Einschätzung erweist sich jedoch als problematisch, wenn man Fälle wie den des Münchner Amokläufers David Sonboly betrachtet, der seine radikalen und rassistischen Äußerungen über Plattformen wie Steam verbreitete, ohne dass dies zu relevanten Konsequenzen führte. Sonboly nutzte etwa den Namen des Winnender Amokläufers Tim Kretschmer als Nickname und glorifizierte diesen offen – eine Handlung, die formal durch die Meinungsfreiheit gedeckt ist, solange keine direkte Aufforderung zu Straftaten oder eine Störung des öffentlichen Friedens vorliegt. Dies verdeutlicht, dass radikale Tendenzen und gefährliche Einstellungen sich in der Online-Gaming-Subkultur verstecken können, ohne dass rechtzeitig interveniert wird. Selbst wenn Angehörige, Freunde oder Gleichaltrige Alarm schlagen, fehlt es oft an funktionierenden Frühwarnsystemen, die solches Verhalten effektiv erkennen und Gegenmaßnahmen einleiten könnten.
Die Vielzahl an extremistischen Gruppen und Begriffen, die auf Plattformen wie Steam leicht auffindbar sind, zeigt, dass solche Einstellungen keineswegs Einzelfälle sind. Nutzer mit radikalen Pseudonymen oder Mitgliedschaften in Gruppen wie dem „Anti-Flüchtlings-Club“ oder „Eldigado is a god“ bilden ein Netzwerk, das sich weit über Ländergrenzen hinweg verbindet. Dabei sind es oft junge Männer, die in europäischen Gesellschaften aufgewachsen sind und sich bewusst in dunkle Pfade abseits einer scheinbar stabilen Zivilgesellschaft begeben, getragen von einer ideologischen Radikalisierung, die durch die Globalisierung und die virtuelle Vernetzung verstärkt wird.
Die Komplexität und Tiefe solcher Subkulturen stellt Ermittlungsbehörden vor erhebliche Herausforderungen. Wissen und Erfahrung im Umgang mit dem Darknet, dem anonymen Internetbereich, in dem Waffenhandel und andere illegale Aktivitäten florieren, sind bei Staatsanwaltschaften und Polizei selten weit verbreitet. Nur spezialisierte Ermittler verstehen die Mechanismen und können mittels legaler Methoden wie verdeckter Ermittlungen oder der Zusammenarbeit mit Verdächtigen, die in einer Art „Deal“ ihr Darknet-Konto offenlegen, tiefere Einblicke gewinnen. Doch auch wenn solche Verfahren gelingen, geschieht dies oft erst nach oder während tragischer Ereignisse. Im Fall Sonboly etwa gab es bereits frühzeitig Hinweise auf seine Aktivitäten im Darknet, darunter der Kontakt zu einem Waffenhändler, der ihm die Tatwaffe beschaffte. Dennoch konnte die Tat nicht verhindert werden.
Diese Entwicklung macht deutlich, dass eine intensivere Durchdringung und Beobachtung der Online-Gaming-Subkultur und der damit verbundenen digitalen Räume notwendig ist – nicht nur zur Prävention von Gewalt und Terror, sondern auch zum Schutz einer offenen Gesellschaft. Die Erkenntnis muss sein, dass Globalisierung und digitale Vernetzung zwar Chancen bieten, gleichzeitig aber auch eine Schattenseite haben: die Verstärkung und Verbreitung militant-rassistischer Ideologien und Hass. Es sind oft junge Menschen, die scheinbar aus dem stabilen sozialen Kontext ausbrechen und in eine virtuelle Welt eintauchen, die ihnen Zugang zu radikalem Gedankengut und gefährlichen Netzwerken bietet.
Neben der Beobachtung ist es entscheidend, die Mechanismen solcher Subkulturen zu verstehen, um gezielt präventiv einzugreifen. Die fehlende Sensibilisierung in Politik und Industrie sowie das geringe politische und behördliche Druckpotential auf die Betreiberplattformen erschweren dies erheblich. Deshalb müssen nicht nur technische Überwachungs- und Moderationssysteme verbessert werden, sondern auch gesellschaftliche und politische Strategien entwickelt werden, die frühe Anzeichen von Radikalisierung und Gewaltbereitschaft erkennen und angemessen adressieren. Nur so kann verhindert werden, dass junge Menschen in diesen Kreislauf aus Hass und Gewalt geraten und dass digitale Räume zu Brutstätten von Terror und Extremismus werden.
Ein wesentliches Verständnis für den Leser ist dabei, dass die Grenzen zwischen Freizeit, Unterhaltung und politischer Radikalisierung im digitalen Zeitalter zunehmend verschwimmen. Die Subkultur der Online-Gamer ist kein isolierter Raum, sondern Teil eines komplexen Geflechts sozialer und ideologischer Dynamiken, das nicht unterschätzt werden darf. Ebenso sollte klar sein, dass die Meinungsfreiheit ihre Grenzen dort findet, wo direkte Gewaltaufrufe oder Störungen des öffentlichen Friedens beginnen. Die Herausforderung besteht darin, diese Grenze im digitalen Raum wirksam zu erkennen und zu handeln, ohne dabei grundlegende Freiheitsrechte unverhältnismäßig einzuschränken.

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