Das chinesische Verständnis von Ungleichheit unterscheidet sich grundlegend von westlichen Konzepten sozialer Gerechtigkeit. Trotz wachsender wirtschaftlicher Disparitäten dominiert in China eine überwiegend optimistische Erwartungshaltung, dass der allgemeine Wohlstand letztlich allen zugutekommen werde – auch wenn nicht gleichzeitig und nicht in gleichem Maße. Diese Haltung wurzelt in einem tief verankerten Vertrauen in den wirtschaftlichen Fortschritt und in der Vorstellung, dass individuelle Anstrengung und Fähigkeit entscheidende Faktoren für den eigenen sozialen Status sind. Armut wird im chinesischen Bewusstsein häufig nicht als Folge struktureller Ungerechtigkeit verstanden, sondern als Resultat mangelnder Bildung, fehlender Initiative oder unzureichender persönlicher Fähigkeiten.

Diese meritokratische Logik hat historische Gründe. Während der maoistischen Ära herrschte ein offizielles Gleichheitsideal, das jedoch durch die rigide Trennung zwischen Stadt und Land – institutionalisiert im hukou-System – zu einer tiefen Kluft zwischen privilegierten städtischen und benachteiligten ländlichen Bevölkerungsgruppen führte. Viele der heute beklagten Ungleichheiten, wie Sonderbehandlungen für Beamte oder Diskriminierung gegenüber Menschen ohne städtisches hukou, sind Relikte dieser sozialistischen Ordnung. Im Vergleich zu dieser als ungerecht empfundenen Vergangenheit erscheint die gegenwärtige Ungleichheit, die sich aus marktwirtschaftlichen Reformen ergibt, für viele Chinesen als legitim oder zumindest als „gerechter“. Besonders die ländliche Bevölkerung sieht sich heute besser gestellt als früher und zeigt daher größere Zufriedenheit als die urbanen Eliten, die weniger von den Reformen profitiert haben.

Entscheidend ist, dass Chinesen Ungleichheit nicht auf nationaler Ebene wahrnehmen, sondern im Kontext ihrer unmittelbaren Umgebung. Vergleiche finden nicht mit abstrakten sozialen Gruppen, sondern mit Familienmitgliedern, Nachbarn oder Kollegen statt. Lokale Ungleichheiten sind die entscheidende Referenz – und weil Wohnorte und Arbeitsplätze meist nach Einkommensschichten segregiert sind, erscheint die soziale Differenz im direkten Umfeld weniger ausgeprägt. So empfinden über 70 Prozent der Befragten die nationale Einkommenskluft als zu groß, doch nur rund 30 Prozent sehen dies innerhalb ihrer Nachbarschaft so. Ländliche Bewohner vergleichen sich eher mit anderen Landbewohnern, selbst wenn ihnen die enormen Vorteile der Städter bewusst sind; sie betrachten diese nicht als relevante Bezugsgruppe.

Daraus schließt Whyte, dass die Mehrheit der Bevölkerung nicht grundsätzlich mit der bestehenden Ungleichheit unzufrieden ist. Doch diese Einschätzung ist nicht unproblematisch. Während Umfragen geringe Unzufriedenheit zeigen, deuten Untersuchungen zu sozialen Bewegungen auf das Gegenteil hin: Seit den 1990er Jahren ist die Zahl kollektiver Proteste stark gestiegen – Streiks, Besetzungen, Konfrontationen mit Behörden. Diese Aktionen richteten sich selten gegen das politische System insgesamt, sondern gegen konkrete Missstände – Korruption, willkürliche Enteignungen, Umweltverschmutzung, unbezahlte Löhne oder unfaire Entlassungen. Es geht den Beteiligten nicht um abstrakte Gerechtigkeitsideen, sondern um unmittelbar erlebte Ungerechtigkeiten.

Dennoch bleibt die Verbindung zwischen lokaler Empörung und nationaler Ungleichheit nicht zufällig. Je größer der Reichtumsunterschied, desto stärker wird das Vertrauen in die politische Fairness untergraben. Wenn wirtschaftliche Macht Korruption und Vetternwirtschaft begünstigt, werden strukturelle Ungleichheiten zu konkreten Kränkungen. Die Wahrnehmung von Ungerechtigkeit entsteht also dort, wo die Grenze zwischen verdienten Erfolgen und unrechtmäßig erworbenen Vorteilen verschwimmt.

Die Bereitschaft, Ungleichheit zu akzeptieren, ist auch vom ökonomischen Wachstum geprägt. Zwei Jahrzehnte spektakulären Aufschwungs haben Erwartungen stabilisiert und Hoffnungen genährt. Doch mit der jüngsten Verlangsamung des Wachstums treten Risse in diesem Konsens auf. Fabrikschließungen, sinkende Nachfrage und Massenentlassungen führen zu spontanen Protesten, die nicht mehr nur lokale Missstände betreffen, sondern zunehmend das Gefühl ausdrücken, dass das System selbst seine Leistungsversprechen nicht mehr erfüllt.

Wichtig ist zu erkennen, dass die chinesische Akzeptanz von Ungleichheit weniger auf passiver Resignation als auf pragmatischer Rationalität beruht. Solange Aufstieg als erreichbar gilt und der Staat minimale soziale Absicherung gewährleistet, wird Ungleichheit als funktionaler Bestandteil eines erfolgreichen Systems hingenommen. Doch wenn das Vertrauen in Leistungsgerechtigkeit und politische Integrität schwindet, verwandelt sich diese Toleranz in latentes Misstrauen. Dann droht die feine Balance zwischen Stabilität und Unruhe zu kippen – und die Frage nach der Gerechtigkeit wird zu einer offenen Wunde in der gesellschaftlichen Wahrnehmung des modernen China.

Warum erheben sich die Benachteiligten so selten gegen Ungleichheit?

Ungleichheit ist eine Konstante der sozialen Ordnung, Rebellion hingegen eine Seltenheit. Menschen leben innerhalb von Machtverhältnissen, die nicht nur ihre Möglichkeiten begrenzen, sondern auch ihre Wahrnehmung dessen, was als gerecht und unvermeidlich gilt. Selbst dort, wo das Leben besonders hart ist, bleibt die Mehrheit angepasst, gefangen in den gewohnten Strukturen des Alltags und überzeugt von deren Notwendigkeit. Gerade jene, die am meisten unter Ungleichheit leiden, zeigen sich oft am fügsamsten – weil ihnen die Mittel fehlen, um sich zu widersetzen, und weil der Preis des Widerstands zu hoch ist.

Diese Akzeptanz ist nicht nur Ergebnis materieller Abhängigkeit, sondern auch symbolischer Herrschaft. Die Armen werden dazu gebracht zu glauben, dass ihre Armut verdient ist, so wie der Reichtum der Mächtigen verdient scheint. Dieses Denken verleiht der Ungleichheit moralische Legitimität, indem es sie als Naturzustand erscheinen lässt. Der soziale Druck, die Sanktionen des Alltags und die institutionellen Belohnungsmechanismen schaffen ein Geflecht, das Gehorsam erzwingt und Abweichung bestraft.

Doch auch wenn Ungerechtigkeit als alltägliche Erfahrung präsent ist, bleibt sie meist lokal verankert. Menschen erleben Unterdrückung nicht als abstraktes System, sondern in der konkreten Begegnung mit ihrem Umfeld: Der Arbeiter spürt die Härte des Fließbands und den Druck des Vorarbeiters, nicht die anonyme Macht des Kapitalismus. Der Mieter kennt die feuchten Wände und den kalten Ofen, nicht das Zusammenspiel von Banken, Immobilienkonzernen und Stadtpolitik. Der Empfänger staatlicher Hilfe begegnet dem herablassenden Blick des Sachbearbeiters, nicht den strukturellen Prinzipien der Sozialpolitik. Es sind diese konkreten Erfahrungen, die Empörung formen, die Ziele des Zorns bestimmen und die Grenzen möglicher Forderungen abstecken.

Daraus folgt, dass kollektive Mobilisierung nur unter außergewöhnlichen Umständen möglich ist. Die Benachteiligten verfügen weder über institutionelle Ressourcen noch über stabile Organisationsformen, und sie sind besonders verletzlich gegenüber Repression. Wo ihnen formale Organisation verwehrt bleibt, bleibt ihnen nur die spontane, oft riskante Verweigerung – ziviler Ungehorsam, Aufruhr, Nichtbefolgung von Regeln. Doch gerade diese Formen gefährden ihre ohnehin prekäre Existenz, da sie die Routinen des Überlebens stören, auf die sie angewiesen sind.

Die Forschung zu sozialen Bewegungen unterscheidet zwischen strukturellen Ansätzen, die ökonomische Ressourcen und politische Netzwerke betonen, und kulturellen Ansätzen, die sich auf Bedeutungen, Identitäten und Emotionen konzentrieren. Doch beiden liegt ein gemeinsames Moment zugrunde: Mobilisierung ist kein spontaner Akt der Willensfreiheit, sondern der mühsame Prozess, Zwänge zu überwinden. Ressourcen, Netzwerke und symbolische Deutungen bilden die Bedingungen, unter denen Unzufriedenheit zu kollektiver Aktion werden kann.

In vielen historischen Fällen – etwa der Bürgerrechtsbewegung in den USA – waren es bestehende Gemeinschaftsstrukturen wie Kirchen oder Universitäten, die den Raum für Organisation boten. Dort entstanden Netzwerke, die Solidarität stärkten, soziale Verpflichtung erzeugten und durch gegenseitige Verantwortung den Mut zum Handeln stützten. Doch dieselben Netzwerke, die Emanzipation ermöglichen, können auch Konformität erzwingen und Abweichung ersticken.

Damit zeigt sich ein Paradox: Die Struktur des Alltagslebens gleicht jener der Protestbewegung – beide sind durch Macht, Abhängigkeit und gegenseitige Kontrolle geprägt. Protest entsteht nicht einfach aus Leid, sondern aus Momenten, in denen die gewohnten Strukturen brüchig werden und Menschen einen neuen Handlungsspielraum erkennen. Nur dann wird die Ungleichheit, die sonst als selbstverständlich gilt, zum Gegenstand bewusster Ablehnung.

Wichtig ist zu verstehen, dass der Mangel an Rebellion kein Zeichen von Zustimmung oder Apathie ist, sondern das Resultat tiefer sozialer Zwänge. Der Gehorsam der Benachteiligten ist nicht Ausdruck von Passivität, sondern von Überlebenslogik in einer Ordnung, die sie kaum anders überstehen könnten. Mobilisierung verlangt daher nicht nur Ressourcen und Organisation, sondern auch eine Verschiebung der Wahrnehmung – ein Erwachen aus der Alltäglichkeit des Unvermeidlichen, das den Weg zur kollektiven Selbstbehauptung eröffnet.

Wie kann eine Gesellschaft soziale Ungleichheit verstehen und verändern?

Die soziale Ungleichheit und die Mechanismen ihrer Reproduktion sind zentrale Themen in der modernen Gesellschaftstheorie. Besonders die Arbeiten von Pierre Bourdieu und Luc Boltanski haben dazu beigetragen, das Verständnis der sozialen Strukturen und der sozialen Kämpfe zu vertiefen. Bourdieu beschreibt in seiner Theorie das soziale Feld als einen Raum, in dem verschiedene Akteure um den Zugang zu symbolischem Kapital kämpfen. Das Konzept des "Habitus", das er entwickelt hat, stellt eine tief verwurzelte, aber nicht bewusst reflektierte Praxis dar, die sowohl individuelle Entscheidungen als auch kollektive Handlungen beeinflusst. Bourdieu spricht dabei nicht nur von ökonomischem Kapital, sondern auch von kulturellem und sozialen Kapital, die in bestimmten Feldern – etwa Bildung oder Kunst – von entscheidender Bedeutung sind. Der Zugang zu diesen Kapitalarten bestimmt die Position eines Individuums im sozialen Raum.

Luc Boltanski und seine Mitautoren, wie in „Die neue Geisteshaltung des Kapitalismus“ (2007) und „On Justification“ (2006), erweitern dieses Verständnis, indem sie untersuchen, wie die Menschen in unterschiedlichen sozialen Feldern die Gültigkeit von Normen und Werten legitimieren. Boltanski und Thévenot sprechen von "Wertökonomien", in denen Akteure ihre Handlungen durch bestimmte Werte rechtfertigen. Diese Werte – sei es Liebe, Gerechtigkeit oder der Marktwert – bieten einen Rahmen, innerhalb dessen soziale Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit verstanden werden kann. Für sie ist die Gesellschaft ein Ort ständiger Aushandlungen darüber, was als gerecht oder ungerecht gilt. In einem kapitalistischen System, das immer mehr auf individuelle Leistung und Effizienz ausgerichtet ist, wird soziale Ungleichheit als eine Art „versteckte“ Norm dargestellt, die durch die ideologischen Mechanismen legitimiert wird.

Die Theorien von Bourdieu und Boltanski verdeutlichen, dass Ungleichheit nicht nur in ökonomischen Begriffen erfasst werden kann, sondern vielmehr als ein sozialer und kultureller Prozess zu verstehen ist, der tief in den Praktiken und Wertvorstellungen der Gesellschaft verwurzelt ist. In dieser Sichtweise ist soziale Ungleichheit nicht nur eine Frage von Reichtum und Ressourcen, sondern auch eine Frage von Anerkennung und symbolischem Kapital. Der Weg zu einer gerechteren Gesellschaft erfordert daher mehr als nur ökonomische Umverteilung – er erfordert eine tiefgehende Veränderung der sozialen Normen und Werte, die die gegenwärtige Ungleichheit legitimieren.

Es ist dabei wichtig zu verstehen, dass soziale Mobilität nicht nur von ökonomischen oder materiellen Faktoren abhängt, sondern auch von kulturellen und symbolischen Aspekten. Die Klassenzugehörigkeit, das Bildungsniveau und die sozialen Netzwerke eines Individuums bestimmen, wie gut es sich in der Gesellschaft behaupten kann. In einer Gesellschaft, in der soziale Herkunft eine so dominante Rolle spielt, wird es für viele Menschen schwer, sich außerhalb ihrer sozialen Schicht zu bewegen. Die Idee der „Chancengleichheit“ wird oft zu einem Mythos, der von den sozialen Realitäten weit entfernt ist.

In den letzten Jahrzehnten hat sich die Wahrnehmung von sozialer Ungleichheit gewandelt. Während in den frühen Phasen der Industrialisierung soziale Bewegungen vor allem die ökonomische Umverteilung forderten, haben sich die Schwerpunkte der kritischen Theorie mittlerweile auf die kulturellen Dimensionen der Ungleichheit verschoben. Kritische Ansätze wie die von Judith Butler oder Kimberly Crenshaw erweitern das Verständnis von Ungleichheit um Fragen der Identität und der Intersektionalität. Diese Perspektive beleuchtet, wie verschiedene soziale Kategorien wie Geschlecht, Rasse und Klasse miteinander verwoben sind und wie sie zusammenwirken, um die Erfahrung von Ungleichheit zu formen.

In der Diskussion um soziale Gerechtigkeit ist es daher entscheidend, den intersektionalen Ansatz zu berücksichtigen. Soziale Bewegungen, die sich gegen Ungleichheit stellen, müssen nicht nur die wirtschaftlichen Dimensionen ansprechen, sondern auch die sozialen, kulturellen und symbolischen Ungleichgewichte, die in den Strukturen der Gesellschaft verankert sind. Die Idee, dass soziale Bewegungen Veränderung herbeiführen können, setzt voraus, dass sie die bestehenden Normen herausfordern und neue, gerechtere Formen der sozialen und politischen Organisation entwickeln.

Darüber hinaus muss die Rolle von Technologie und Globalisierung in der Entstehung und Verstärkung sozialer Ungleichheit berücksichtigt werden. In einer zunehmend digitalisierten Welt spielen neue Technologien eine zentrale Rolle in der Verteilung von Ressourcen und Chancen. Während technologische Innovationen in vielen Bereichen Fortschritt bringen, verstärken sie gleichzeitig bestehende Ungleichheiten, wenn sie nicht durch eine soziale und politische Strategie begleitet werden, die allen Teilen der Gesellschaft gleichermaßen zugutekommt. Dies ist besonders sichtbar im Hinblick auf den Arbeitsmarkt, wo Automatisierung und Digitalisierung ganze Berufsfelder verdrängen und neue Formen der Ungleichheit schaffen.

Die Frage der sozialen Gerechtigkeit muss daher immer in einem breiten Kontext verstanden werden, der ökonomische, kulturelle und politische Dimensionen miteinander verknüpft. Eine gerechtere Gesellschaft erfordert nicht nur eine Veränderung der wirtschaftlichen Verhältnisse, sondern auch eine tiefgehende Transformation der sozialen Normen, die die Wahrnehmung und Reproduktion von Ungleichheit lenken. Es reicht nicht aus, soziale Bewegungen und Kritiken an der bestehenden Ordnung zu verstehen – es gilt, auch die materiellen und symbolischen Bedingungen zu ändern, die diese Ungleichheit ermöglichen.