Die Frage, ob und unter welchen Bedingungen Menschen das Recht haben, Grenzen zu überschreiten, ist komplex und vielschichtig. Liberalismus fordert nicht notwendigerweise offene Grenzen; Staaten dürfen unerwünschte Migranten ausschließen und dabei auch Zwangsmittel einsetzen. Dennoch gibt es Personen, die aufgrund ihrer Lebensumstände innerhalb ihres Herkunftsstaates ein Recht auf Migration besitzen – insbesondere auf Asyl. Diese Personen sind dort nicht in der Lage, ein Leben zu führen, das ihrer menschlichen Würde entspricht, und haben deshalb einen Anspruch gegen die internationale Gemeinschaft. Solche Ansprüche sind generalisierend, sie gelten gegenüber allen Staaten, weil sie auf universellen menschlichen Verletzlichkeiten und Gefahren basieren.
Neben diesen universellen Rechten existieren auch besondere, partikulare Ansprüche auf Migration, die nicht nur von der Situation der Migranten im Herkunftsland abhängen, sondern auch von spezifischen Beziehungen zu bestimmten Staaten oder Gesellschaften. Solche Ansprüche können auf historischen oder politischen Verantwortlichkeiten eines Staates beruhen, wie Michael Walzer am Beispiel der vietnamesischen Flüchtlinge gezeigt hat, die durch amerikanische Kriegseinwirkung eine besondere Bindung an die USA erhielten. Ebenso können partikulare Ansprüche aus der Perspektive der Migranten selbst entstehen – etwa wenn sie bestehende Verbindungen und Zugehörigkeiten zu einer Gesellschaft aufrechterhalten oder neue aufbauen wollen. Hierbei kann es sich um Bindungen an einen bestimmten Ort, um Interessen der Undokumentierten oder um familiäre Zusammenführungen handeln.
Eine zentrale These besteht darin, dass die meisten dieser besonderen Ansprüche nicht notwendigerweise Ansprüche der Gerechtigkeit begründen. Staaten dürfen vielfach die Aufnahme von Migranten ablehnen, ohne dadurch ungerecht zu handeln. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Ablehnung moralisch zu rechtfertigen wäre oder dass der Ausschluss praisenswert sei. Vielmehr sollte ein moralisch verantwortlicher Staat rechtliche Instrumente entwickeln, um solchen besonderen Ansprüchen gerecht zu werden. So könnte etwa das Recht auf Familienzusammenführung gesetzlich verankert, Programme zur Nutzung lokaler Ressourcen und Chancen für bestimmte Migranten geschaffen und die Lage langjährig Undokumentierter durch Amnestie oder Legalisierung verbessert werden. Solche Maßnahmen gründen sich jedoch eher auf das Prinzip der Barmherzigkeit als auf das der Gerechtigkeit. Das heißt, ein Staat wird nicht ungerecht, wenn er diese besonderen Ansprüche ablehnt, zeigt sich aber grausam, wenn er sich auf bloße Rechtsneutralität beschränkt und nicht mehr unternimmt.
Ein Beispiel für besondere Ansprüche, das häufig diskutiert wird, ist der Wunsch, an einem bestimmten Ort zu leben, weil dieser Ort für das individuelle Lebenskonzept oder die beruflichen Ziele unerlässlich ist. Dies könnte das Verlangen sein, in ein Land mit Küstenlinie zu ziehen, um Ozeanographie zu studieren, oder die Absicht, eine bestimmte religiöse Gemeinschaft zu pflegen. Solche „Ortgebundenheit“ (wie Anna Stilz es nennt) ist zwar nachvollziehbar, führt aber nicht zwangsläufig zu einem moralischen Recht auf Migration. Es fehlt nämlich an einem universellen Recht auf alle erdenklichen Möglichkeiten und daran, dass andere Personen oder Gesellschaften verpflichtet wären, eigene Ressourcen oder Gesetze ausschließlich zugunsten eines solchen individuellen Wunsches anzupassen. Die Entscheidung über Einreise bleibt somit eine legitime staatliche Hoheit.
Darüber hinaus entsteht durch Migration auch eine neue soziale und rechtliche Beziehung zu einer Gemeinschaft, die nicht nur auf gegenseitiger Sympathie oder individuellen Wünschen basiert, sondern auf dem Zusammenleben in einem politischen Raum mit eigenen Gesetzen und Normen. Das Recht auf Migration lässt sich folglich nicht allein aus subjektiven Bedürfnissen oder Zuneigungen ableiten, sondern muss auch das Verhältnis zu bestehenden kollektiven Institutionen und deren legitimen Ansprüchen berücksichtigen.
Es ist daher wesentlich, dass Leserinnen und Leser nicht nur die rechtliche und moralische Unterscheidung zwischen allgemeinen, von der Menschlichkeit abgeleiteten Ansprüchen und besonderen, spezifischen Bindungen verstehen, sondern auch die Bedeutung der Barmherzigkeit im Umgang mit Migranten anerkennen. Gerechtigkeit allein schützt nicht vor Härten und Ausschlüssen, die ein menschliches Miteinander erschweren können. Die Bereitschaft zur Barmherzigkeit, zur Anerkennung und Förderung von Migration jenseits starrer rechtlicher Verpflichtungen, ist ein Kennzeichen eines ethisch sensiblen und inklusiven Staates. Zugleich bedeutet dies, dass Migrationspolitik immer auch eine Balance zwischen Recht, Moral und pragmatischen gesellschaftlichen Interessen sein muss.
Wie verstehen wir die Gerechtigkeit in der Migrationsdebatte?
Die öffentliche Debatte über Migration ist in vielerlei Hinsicht eine Debatte über Ethik. In den letzten Jahren hat die Frage, ob bestimmte Migrationsmuster ungerecht oder unfair sind, immer mehr an Bedeutung gewonnen. Ein prägnantes Beispiel dafür ist die Wahl Donald Trumps im Jahr 2016. Zu Beginn seiner Kampagne stellte Trump die Behauptung auf, dass mexikanische Migranten vor allem Kriminelle, Drogenhändler und „schlechte Leute“ seien. Er rechtfertigte sein Versprechen, eine Mauer zwischen Mexiko und den USA zu bauen, mit der Vorstellung, dass diese Migranten den amerikanischen Arbeitern die Arbeitsplätze stahlen. In seiner Antrittsrede stellte er klar, dass von nun an alles für Amerika und seine Arbeiter getan werden müsse: „America First“. Diese Haltung widerspiegelt eine moralische Perspektive auf Migration: Die gegenwärtige globale Ordnung sei ungerecht, weil Migranten den Bürgern der USA Arbeitsplätze und Wohlstand wegnähmen. Die Vorstellung, dass diese Ressourcen rechtmäßig von den amerikanischen Bürgern gehalten werden, ist eine zentrale moralische Behauptung.
Trump gewann die Präsidentschaft, nicht zuletzt aufgrund seiner Fähigkeit, Hillary Clinton als „Globalistin“ darzustellen, die bereit wäre, die Interessen der Amerikaner zugunsten der globalen Ordnung zu opfern. Diese Perspektive vertritt eine spezifische Vorstellung von Gerechtigkeit, bei der es darum geht, den „unerwünschten Fremden“ auszugrenzen, um Unfairness zu vermeiden. Diese Haltung beruht auf der Annahme, dass es moralisch richtig ist, sich gegen die Migration von außen abzusichern, um die Gerechtigkeit für die aktuellen Mitglieder einer politischen Gemeinschaft zu wahren.
Dem gegenüber steht eine andere Vorstellung von Gerechtigkeit, die in vielen politischen Widerständen gegen die Trump-Administration zum Ausdruck kommt. Der populäre Slogan „Kein Mensch ist illegal“ stellt infrage, ob der Begriff der „Illegalität“ nicht selbst eine Form der Entmenschlichung und der Ungerechtigkeit in sich trägt. Gegner der Migrationspolitik der Trump-Regierung betonen, dass der Ausschluss bestimmter Migranten aus ethischen Gründen als unfair und ungerecht angesehen werden muss. In den Vereinigten Staaten gab es zahlreiche rechtliche Anfechtungen des sogenannten „Reiseverbots“, das die Einreise von Bürgern aus mehrheitlich muslimischen Ländern verhindern sollte. Diese Klagen basierten auf der Überzeugung, dass solche Praktiken diskriminierend und daher ungerecht seien.
Ein weiteres Beispiel für den Widerstand gegen Migrationsbeschränkungen ist die neue Flüchtlingsbewegung, die in verschiedenen Teilen der Welt an Fahrt gewonnen hat. In vielen europäischen Ländern – darunter Deutschland, Italien und Frankreich – sind öffentliche Debatten über die Aufnahme von Flüchtlingen zu einem zentralen politischen Thema geworden. In Deutschland war die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel ein Hauptstreitpunkt zwischen den etablierten politischen Kräften und populistischen Bewegungen wie der Alternative für Deutschland (AfD). Diese Bewegungen argumentieren, dass Migration eine Form der Ungerechtigkeit darstellt, da sie zu Lasten der „einheimischen“ Bevölkerung geht. Auch in Italien hat die politische Machtübernahme durch populistische Parteien wie die Fünf-Sterne-Bewegung und die Lega viel mit der Ablehnung von Migranten zu tun.
Doch auch auf globaler Ebene lassen sich ähnliche Argumente finden. Populistische Bewegungen in Ländern wie Brasilien, Myanmar oder Zimbabwe haben ihre politische Macht häufig durch die Ablehnung von Migration erlangt. In all diesen Fällen wird Migration als eine ungerechte Praxis dargestellt, die gegen die Interessen der eigenen Bürger gerichtet ist. Diese politischen Bewegungen beruhen auf einer ähnlichen Vorstellung von Gerechtigkeit, die sich gegen eine als unfair empfundene Migration richtet.
Trotz der unterschiedlichen politischen Systeme und sozialen Kontexte ist das Grundmuster der Argumentation in all diesen Fällen ähnlich: Die Migration bestimmter Gruppen ist ungerecht, weil sie einer bestimmten Bevölkerungsgruppe Schaden zufügt. Die ethische Grundlage dieser Debatten ist dabei nicht nur das Streben nach einer fairen Verteilung von Ressourcen, sondern auch die Frage, wer das Recht hat, in ein bestimmtes Land zu migrieren und wie dieses Recht begründet wird.
Dabei stellt sich immer wieder die Frage, wie weit das Recht auf Ausschluss von Migranten tatsächlich reicht. Ist es gerechtfertigt, ganze Gruppen von Menschen auszuschließen, die vor Verfolgung oder Armut fliehen? Oder sind die heutigen Grenzen der Staaten tatsächlich in einem Maße fair und gerecht, dass das Recht auf Ausschluss als moralisch einwandfrei gelten kann? Diese Fragen sind zentral, wenn es darum geht, zu verstehen, warum Migration in vielen Teilen der Welt als problematisch angesehen wird.
Die Herausforderung für uns als Gesellschaften besteht darin, einen moralisch vertretbaren Mittelweg zwischen den verschiedenen Positionen zu finden. Die politische Debatte sollte nicht nur die Frage der Gerechtigkeit der Migration selbst thematisieren, sondern auch, wie wir als Gesellschaften auf die moralischen Dilemmata reagieren, die die Migration mit sich bringt. Die Frage, wer das Recht hat zu migrieren und warum, wird nicht nur die politische Zukunft prägen, sondern auch unser Verständnis von Gerechtigkeit und der Rolle des Staates in einer globalisierten Welt.

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