Es ist eine weit verbreitete Annahme, dass wir ein vermutetes Recht auf Freiheit besitzen, das uns davor schützt, dass andere uns ohne unsere Zustimmung Verpflichtungen auferlegen. Dieses Recht ist jedoch ein vermutetes, da es möglich ist, dass unter bestimmten Umständen eine bestehende Verpflichtung so stark ist, dass wir moralisch und rechtlich dazu verpflichtet sind, eine neue Verpflichtung zu übernehmen. Doch die Existenz dieser bestehenden Verpflichtung muss überzeugend belegt werden, andernfalls ist jede neue Verpflichtung lediglich eine unzulässige Einmischung in unsere Freiheit.

Ein anschauliches Beispiel, das Judith Jarvis Thomson in einem bekannten Gedankenexperiment verwendet, kann diese Problematik verdeutlichen. Stellen wir uns vor, dass Thomson's libertäre Einwände nicht zutreffen und wir tatsächlich einer moralischen und rechtlichen Verpflichtung unterliegen, unser Blutplasma einem bedürftigen Violinisten zu spenden, um dessen Überleben zu sichern. In diesem Fall könnte der Violinist uns einfach durch eine Berührung der Fingerspitzen in diese Verpflichtung zwingen. Diese Annahme mag ungewöhnlich klingen, doch ist sie nützlich, um die Fragen rund um moralische Verpflichtungen zu hinterfragen.

Nehmen wir an, dass der Violinist bereits von einer anderen Person unterstützt wird, aber nun den Wunsch hat, an uns angeschlossen zu werden. Hat er das Recht, uns zu berühren und uns zur Erfüllung seiner moralischen Ansprüche zu verpflichten? Es gibt keinen erkennbaren Grund, warum der Violinist dieses Recht hätte. Bereits durch die Unterstützung der anderen Person werden seine Rechte ausreichend geschützt. In diesem Szenario sind wir nicht verpflichtet, die Rolle des Unterstützers zu übernehmen. Wir könnten sogar ein gewisses Maß an Zwang anwenden, um uns vor der Berührung des Violinisten zu schützen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass wir uneingeschränkte Freiheit in der Verteidigung unserer Autonomie haben. Es gibt Grenzen, was wir tun können, um unser Recht auf Freiheit zu verteidigen.

Obwohl diese Metapher auf den ersten Blick extrem und unrealistisch erscheint, wirft sie grundlegende Fragen zur Natur moralischer Verpflichtungen auf. Im Fall des Violinisten könnte man sich fragen, ob es wirklich gerechtfertigt ist, jemandem eine solche Verpflichtung aufzuerlegen, ohne seine Zustimmung. Aber was passiert, wenn wir dieses Beispiel auf die Einwanderung übertragen? Der Immigrant ist in vielerlei Hinsicht weniger belastend und komplex als der Violinist. Der Immigrant handelt oft aus nachvollziehbaren Gründen, sei es aufgrund von wirtschaftlicher Not, familiären Bindungen oder schlichtem Überlebensdrang. Im Gegensatz dazu scheint der Violinist eine viel willkürlichere Entscheidung zu treffen, seine Unterstützung von Person zu Person zu verlagern.

Ein weiterer wesentlicher Unterschied ist, dass der Immigrant, im Gegensatz zum Violinisten, einen Beitrag zum Wohlstand des Landes leisten kann, in das er einwandert. Einwanderer bringen ihre Arbeitskraft und somit auch Steuereinnahmen mit, die für das Land von Nutzen sind. Im Vergleich dazu hat der Violinist keinerlei direkten Nutzen für denjenigen, von dem er Unterstützung verlangt. So stellt sich die Frage, ob es gerechtfertigt ist, beide Situationen auf die gleiche Weise zu bewerten. Es ist entscheidend, dass wir die moralischen Bewertungen, die wir dem Violinisten zuschreiben, nicht einfach auf den Einwanderer übertragen. Der Immigrant tut dies oft aus sehr nachvollziehbaren Gründen, und eine moralische Verurteilung seiner Handlung aufgrund der Umstände könnte eine ungerechte Vereinfachung sein.

Es ist wichtig, zwischen der moralischen Bewertung der Handlung des Violinisten und der des Immigranten zu unterscheiden. Während wir den Violinisten vielleicht härter verurteilen könnten, sind beide in moralischer Hinsicht ähnlich problematisch, da sie ohne unsere Zustimmung eine Verpflichtung auf uns übertragen. Einwanderer haben, wie der Violinist, keine moralische Rechtfertigung, diese Verpflichtungen zu erzwingen, wenn keine vorherige Zustimmung besteht. Der Unterschied liegt jedoch in der Art und Weise, wie diese Verpflichtungen wahrgenommen werden. Einwanderer können in den meisten Fällen mit ihren Handlungen einen Beitrag leisten, während der Violinist eine bloße Last darstellt.

Das Problem wird besonders deutlich, wenn man berücksichtigt, dass moralische Verpflichtungen oft auf unterschiedlichen Ebenen abstrahiert werden können. Die Verpflichtung, sich um das eigene Wohnumfeld zu kümmern, könnte als Ausdruck einer größeren moralischen Pflicht verstanden werden, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. In diesem Sinne können wir die Verpflichtung zur Hilfe gegenüber Einwanderern als Teil einer allgemeinen moralischen Verantwortung betrachten, die über individuelle, isolierte Fälle hinausgeht.

Ob die Einwanderung als neue Verpflichtung betrachtet wird oder nicht, spielt dabei eine zentrale Rolle. Einwanderung könnte die Kosten der bereits bestehenden Verpflichtungen innerhalb eines Staates erhöhen, was das moralische Dilemma verstärken würde. Hier stellen sich Fragen zur praktischen Umsetzung dieser moralischen Verpflichtungen: Wenn die Verpflichtungen gegenüber Einwanderern lediglich eine Erweiterung bestehender Verpflichtungen darstellen, was genau ändert sich dann für die Staatsbürger? Der Unterschied zwischen neuen Verpflichtungen und den damit verbundenen Kosten ist von entscheidender Bedeutung.

Es lässt sich argumentieren, dass es eine grundlegende moralische Pflicht gibt, die darauf abzielt, alle Menschen innerhalb eines bestimmten Gebiets zu unterstützen, und dass diese Pflicht nicht durch die Anwesenheit eines Einwanderers verändert wird. Es geht also weniger um neue Verpflichtungen als vielmehr um die Anpassung der bestehenden Verpflichtungen, die das Wohl der Gemeinschaft betreffen. Letztlich stellt sich die Frage, ob die moralische Verpflichtung zur Unterstützung von Einwanderern in einer modernen Gesellschaft als Erweiterung bestehender sozialer Verantwortung angesehen werden kann oder ob es tatsächlich eine neue, separate moralische Verpflichtung darstellt.

Ist es gerechtfertigt, das Ausschlussgesetz zu brechen? Eine moralische Perspektive auf Migration und Institutionen

Die Frage, ob Bobby die Verpflichtung hat, ein Ausschlussgesetz zu befolgen, stellt uns vor ein interessantes moralisches Dilemma. Es geht nicht nur darum, ob das Gesetz ungerecht ist, sondern auch um die Frage, ob der bloße Widerstand gegen ein solches Gesetz die Institutionen, von denen es ausgeht, in ihrer Gerechtigkeit unterstützen kann. In einem politisch gerechten System könnte man sich dennoch der Verpflichtung gegenübersehen, ein ungerechtes Gesetz zu befolgen, wenn dieses aus einem grundsätzlich gerechten politischen Regime hervorgeht. Aber was, wenn das Gesetz selbst Bobby ausschließt? Er könnte sich entscheiden, dem Gesetz nicht zu folgen, um den institutionellen Rahmen weiter zu stärken, anstatt ihm zu schaden. Denn die Verpflichtung zur Unterstützung und Förderung gerechter Institutionen kann auf unterschiedliche Weise wahrgenommen werden.

In der Praxis ist die Frage, ob man den Befehlen eines Staates folgt, eine Reflexion über die Bedeutung dieser Institutionen im größeren Kontext der politischen Gerechtigkeit. Zwei Sichtweisen treten hier hervor: Einerseits könnte man sich als Bürger verpflichtet fühlen, den direkten Anweisungen des Staates zu folgen; andererseits könnte es moralisch gesehen auch eine Verpflichtung geben, die Reichweite der Institutionen zu erweitern, indem man sie nicht auf bestimmte Grenzen beschränkt, sondern sie auf andere Teile der Welt ausdehnt. In Fällen der Migration, insbesondere bei der Bewegung von Menschen über internationale Grenzen, wird diese Unterscheidung deutlich: Sollte Bobby die Gerechtigkeit der Institutionen fördern, indem er sie dazu zwingt, auch ihn zu akzeptieren, und somit ihre Reichweite vergrößert?

Es stellt sich die Frage, ob eine solche Entscheidung moralisch gerechtfertigt werden kann. Es ist möglich, dass das Brechen eines Ausschlussgesetzes weniger bedeutsam ist als die Schaffung eines neuen, gerechten politischen Verhältnisses, indem man den eigenen Einfluss auf das institutionelle System erweitert. Wenn Bobby in ein gerechtes Land einwandert, erlangt er automatisch Rechte, die aus seiner bloßen Anwesenheit resultieren – und der bloße Akt der Migration könnte die Welt in gewissem Sinne gerechter machen.

Eine ähnliche Logik könnte auch auf Carla angewendet werden, die in einem wirtschaftlich benachteiligten Land lebt. Carla steht vor der Wahl, ihre Lebenssituation durch das Überqueren einer Grenze in ein wohlhabenderes Land erheblich zu verbessern. Allerdings könnte das Gesetz dieses Landes ihr dies verwehren. Im Vergleich zu Bobby ist Carlas Situation jedoch eine weniger dramatische Form von Ungerechtigkeit. Sie steht nicht vor existenziellen Gefahren wie jemand in extremem Elend, sondern leidet unter wirtschaftlicher Ungleichheit, die sie durch Migration verringern könnte.

Doch ist diese Ungleichheit eine ausreichende Rechtfertigung, das Ausschlussgesetz zu brechen? In der Regel werden Gesetze als unrechtmäßig angesehen, wenn sie bestimmte Gruppen von Individuen benachteiligen, doch das bedeutet nicht automatisch, dass der Bruch dieser Gesetze gerechtfertigt ist. Carla mag von einem Gesetz benachteiligt werden, aber auch hier ist es wichtig zu verstehen, dass Gesetze in der Regel in einem komplexen politischen Rahmen stehen, der nicht leichtfertig übergangen werden sollte.

Möglicherweise könnte man das Problem anders angehen, indem man die Frage nach der Gerechtigkeit des Gesetzes an sich stellt. Carla könnte argumentieren, dass das wohlhabende Land, das sie von der Migration abhält, seine Ressourcen durch globale Ausbeutung und Kolonialismus erlangt hat, was direkt zu ihrer Armut beigetragen hat. Aber auch diese Perspektive macht den Bruch des Gesetzes nicht notwendigerweise moralisch gerechtfertigt. In einem solchen Fall könnte es eher eine Pflicht zur politischen Auseinandersetzung als zu illegalen Handlungen geben, etwa durch zivile Ungehorsamsaktionen oder durch politische Bewegung, die auf Reformen im globalen Wirtschaftssystem abzielt.

Ein weiterer Weg, dieses Thema zu betrachten, ist die Frage nach den Kosten der Befolgung eines Gesetzes. Wenn die Kosten für die Einhaltung der Gesetze so hoch sind, dass niemand in der Lage wäre, sie in einer vernünftigen Weise zu erfüllen, könnte dies die moralische Grundlage für den Gesetzesbruch untergraben. Diese Überlegung ist entscheidend, wenn man über die Verpflichtung nachdenkt, ein Ausschlussgesetz zu befolgen, das die Rechte von Migranten einschränkt. Es ist zu fragen, ob die moralische Verpflichtung zur Einhaltung von Gesetzen tatsächlich aufrechterhalten werden kann, wenn die damit verbundenen Lasten so groß sind, dass sie die grundlegenden Menschenrechte der betroffenen Personen verletzen.

Abschließend lässt sich sagen, dass die Frage der Rechtfertigung für das Brechen eines Ausschlussgesetzes komplex ist und sowohl moralische als auch politische Überlegungen umfasst. Es geht nicht nur um das individuelle Recht auf Migration, sondern auch um die breitere Verantwortung gegenüber Institutionen, die über individuelle Rechte hinausgehen. Die moralische Grundlage, die für den Bruch eines Gesetzes spricht, könnte darin liegen, das größere Ziel einer gerechten Weltordnung zu fördern – eine Welt, in der Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit über nationalstaatliche Grenzen hinweg geschützt werden.