Die Wahrnehmung von Fairness in Organisationen ist nicht nur eine momentane Reaktion auf spezifische Ereignisse, sondern auch das Ergebnis der Art und Weise, wie diese Ereignisse im zeitlichen Kontext bewertet werden. Forschungsergebnisse zeigen, dass sowohl der zeitliche Abstand zu einem Ereignis als auch die Perspektive, mit der man auf dieses Ereignis zurückblickt, entscheidend für die Bewertung von Gerechtigkeit sind. Der zeitliche Rahmen, in dem diese Ereignisse wahrgenommen und bewertet werden, spielt dabei eine zentrale Rolle.

Ein wichtiges Konzept in diesem Zusammenhang ist die sogenannte "zeitliche Skala", die sich auf die Dauer bezieht, über die ein Ereignis oder eine Reihe von Ereignissen wahrgenommen und bewertet wird. Ein und dasselbe Ereignis kann unterschiedlich bewertet werden, je nachdem, ob es als ein isolierter Vorfall betrachtet wird oder als Teil eines längeren Zeitraums. Beispielsweise kann ein Vorfall von wahrgenommener Ungerechtigkeit, der gestern stattgefunden hat, sehr anders wahrgenommen werden als ein ähnlicher Vorfall, der vor Monaten geschehen ist. Diese Verzerrung, die durch den zeitlichen Abstand entsteht, kann zu einer unterschiedlichen Einschätzung von Gerechtigkeit führen.

Die Frage, warum sich unsere Wahrnehmung von prozeduraler Gerechtigkeit im Vergleich zu interpersoneller Gerechtigkeit je nach zeitlichem Abstand verändert, ist noch nicht abschließend geklärt. Einige Studien legen nahe, dass die Erinnerung an Ereignisse in Bezug auf prozedurale Gerechtigkeit eher einem rekonstruktiven Prozess unterliegt, bei dem die Erinnerung an vergangene Ereignisse modifiziert wird, um sie mit positiven jüngsten Erfahrungen in Einklang zu bringen. Es bleibt jedoch unklar, warum dieser Rekonstruktionsprozess insbesondere für die Wahrnehmung von prozeduraler Gerechtigkeit und nicht für die Wahrnehmung von interpersoneller Gerechtigkeit auftritt.

Darüber hinaus kann die Art und Weise, wie wir ein Ereignis bewerten, auch von der sozialen Nähe zu den betroffenen Personen beeinflusst werden. Wenn eine Person, die von Ungerechtigkeit betroffen ist, in engem sozialen Kontakt mit dem Beobachter steht, kann dies die Wahrnehmung von Gerechtigkeit verstärken. In diesen Fällen wird das Ereignis oft als intensiver und relevanter erlebt, was zu einer stärkeren emotionalen Reaktion führt.

Es gibt auch Hinweise darauf, dass unterschiedliche Zeitrahmen für verschiedene Aspekte von Gerechtigkeit relevant sind. Während beispielsweise interpersonelle Gerechtigkeit, die die Qualität der täglichen sozialen Interaktionen am Arbeitsplatz betrifft, tendenziell stark von kurzfristigen Erfahrungen abhängt und daher häufig in täglichen Umfragen untersucht wird, sind prozedurale oder distributive Gerechtigkeit eher stabile Konstrukte, die über längere Zeiträume hinweg bewertet werden. Die Bewertung von Gerechtigkeit in Bezug auf Organisationen und deren Verfahren wird in der Regel weniger durch die täglichen Ereignisse beeinflusst, sondern vielmehr durch längerfristige Erfahrungen oder die Wahrnehmung von gerechten oder ungerechten Systemen.

Die Forschung zu Gerechtigkeit und Zeitrahmen hat auch gezeigt, dass je nachdem, ob ein Ereignis als kurz- oder langfristig betrachtet wird, die Wahrnehmung der Gerechtigkeit variieren kann. In einer Studie von Judge, Scott und Ilies (2006) wurde beispielsweise untersucht, wie die Wahrnehmung interpersoneller Gerechtigkeit im Arbeitsumfeld die tägliche Arbeitszufriedenheit beeinflusst. Ihre Ergebnisse zeigten, dass ein tägliches Erleben von gerechtem oder ungerechtem Verhalten die Arbeitszufriedenheit stark beeinflusste, insbesondere wenn diese Wahrnehmungen in Verbindung mit anderen Faktoren wie Feindseligkeit am Arbeitsplatz oder abweichendem Verhalten standen.

In einer ähnlichen Untersuchung von Ferris et al. (2010) wurde festgestellt, dass tägliche Wahrnehmungen von interpersoneller Gerechtigkeit die Wahrscheinlichkeit von abweichendem Verhalten der Mitarbeiter vorhersagen können, und zwar stärker als prozedurale oder distributive Gerechtigkeit. Diese Ergebnisse legen nahe, dass die Wahrnehmung von interpersoneller Gerechtigkeit in der täglichen Interaktion besonders wichtig ist und häufigeren Schwankungen unterliegt als andere Dimensionen von Gerechtigkeit. Diejenigen, die regelmäßig mit bestimmten Verfahren oder Systemen der Organisation interagieren, erleben Gerechtigkeit möglicherweise auf eine andere Weise als diejenigen, die seltener oder in größerer Distanz zu den relevanten Entscheidungsprozessen stehen.

Wichtig ist auch, dass unterschiedliche Forschungsperspektiven zu unterschiedlichen Ergebnissen führen können, je nachdem, wie der Zeitrahmen für die Messung von Gerechtigkeit festgelegt wird. Wenn Mitarbeiter zum Beispiel über einen längeren Zeitraum hinweg nach ihrer Wahrnehmung von Gerechtigkeit befragt werden, können ihre Antworten weniger variieren, als wenn dieselben Mitarbeiter täglich nach ihren Erfahrungen gefragt werden. Dies deutet darauf hin, dass die Häufigkeit der Messung und der spezifische Zeitraum, der für die Untersuchung der Gerechtigkeitsperspektiven gewählt wird, die Ergebnisse erheblich beeinflussen können.

Insgesamt ist es entscheidend, dass bei der Untersuchung der Wahrnehmung von Gerechtigkeit die verschiedenen zeitlichen Dimensionen berücksichtigt werden. Es reicht nicht aus, nur einmalig die Wahrnehmung eines spezifischen Ereignisses zu messen; vielmehr müssen auch die langfristigen Auswirkungen und die sich verändernden Wahrnehmungen über die Zeit hinweg berücksichtigt werden, um ein vollständiges Bild davon zu erhalten, wie Gerechtigkeit wahrgenommen und bewertet wird. Auch die sozialen Beziehungen und die Häufigkeit der relevanten Ereignisse spielen eine wichtige Rolle in der Art und Weise, wie diese Wahrnehmungen entstehen und sich über die Zeit hinweg entwickeln.

Warum ist Gerechtigkeit in der Organisation so wichtig für das individuelle Verhalten?

Die Wahrnehmung von Gerechtigkeit ist ein zentrales Thema sowohl in der Arbeitspsychologie als auch in der sozialen Psychologie. Zahlreiche Studien belegen, dass Gerechtigkeit in Organisationen einen erheblichen Einfluss auf die Einstellung der Mitarbeiter und ihr Verhalten hat. Besonders relevant ist hier die Unterscheidung zwischen distributiver und prozeduraler Gerechtigkeit sowie die damit verbundene Frage, wie die Wahrnehmung von Fairness Entscheidungen und Handlungen in einer Arbeitsumgebung beeinflusst.

Prozedurale Gerechtigkeit bezieht sich auf die Fairness der Prozesse, die zu bestimmten Entscheidungen führen. Sie betrifft Fragen wie: Werden alle Mitarbeiter gleich behandelt? Gibt es Transparenz bei Entscheidungen? Werden alle relevanten Informationen berücksichtigt? Studien zeigen, dass ein transparenter und gerechter Entscheidungsprozess nicht nur die Zufriedenheit der Mitarbeiter erhöht, sondern auch ihr Engagement und ihre Leistung verbessert. Menschen reagieren besonders sensibel auf prozedurale Gerechtigkeit, da diese oft als Indikator für die Integrität einer Organisation wahrgenommen wird.

Distributive Gerechtigkeit hingegen bezieht sich auf die Fairness der Ergebnisse oder Verteilungen, wie zum Beispiel die Vergütung oder die Zuweisung von Ressourcen. Hier spielen Erwartungen und die Wahrnehmung von Gerechtigkeit eine wichtige Rolle. Wenn Mitarbeiter das Gefühl haben, dass ihre Leistungen gerecht entlohnt werden, ist ihre Motivation meist höher, und sie zeigen weniger Tendenzen zu negativen Verhaltensweisen wie etwa Diebstahl oder passiver Widerstand.

Es ist jedoch wichtig zu verstehen, dass beide Arten der Gerechtigkeit miteinander verknüpft sind. Ein unfairer Prozess kann die Wahrnehmung der Ergebnisgerechtigkeit erheblich negativ beeinflussen, während ein fairer Prozess selbst dann zu einer positiveren Bewertung führen kann, wenn das Ergebnis nicht völlig im Einklang mit den Erwartungen steht. Die Wahrnehmung von Fairness in Organisationen ist also nicht nur eine Frage der tatsächlichen Gerechtigkeit, sondern auch der sozialen Wahrnehmung und der subjektiven Bewertung der Angemessenheit von Prozessen und Ergebnissen.

In vielen Fällen ist die Wahrnehmung von Gerechtigkeit auch eng mit der sozialen Identität des Individuums verbunden. Hogg (2007) stellte fest, dass Menschen dazu neigen, in unsicheren Situationen zu Gruppen zu gehören, um ihre Unsicherheit zu verringern. Ein solches Bedürfnis nach sozialer Identität kann die Wahrnehmung von Gerechtigkeit beeinflussen. In Situationen, in denen Gruppenmitgliedschaften unklar oder bedroht sind, können die Wahrnehmung von Gerechtigkeit und die damit verbundenen Handlungen in einer Organisation verzerrt werden. Hogg (2000) zeigte, dass Unsicherheit und Zugehörigkeit zu einer Gruppe stark miteinander verbunden sind und die Wahrnehmung von Gerechtigkeit durch Gruppenzugehörigkeit verstärkt oder abgeschwächt werden kann.

Ein weiteres relevantes Konzept ist das Verständnis der Interaktionsgerechtigkeit, das sich auf die Fairness der Behandlung von Individuen durch Entscheidungsträger bezieht. Es geht darum, wie respektvoll und wertschätzend Menschen in Entscheidungsprozesse eingebunden werden. Forscher wie Greenberg (1990) und Colquitt et al. (2002) argumentieren, dass die Interaktion mit Mitarbeitern als fair wahrgenommen wird, wenn sie auf Augenhöhe erfolgt und persönliche Zuwendung erfahren wird.

Es gibt jedoch auch eine kritische Perspektive auf das Konzept der Gerechtigkeit. Einige Theorien, wie die von Jost und Banaji (1994), betonen, dass Menschen in bestimmten sozialen Kontexten dazu neigen, Systeme und Ungleichheiten zu rechtfertigen. Diese Tendenz zur „Systemrechtfertigung“ kann dazu führen, dass Mitarbeiter auch ungerechte Systeme oder Situationen akzeptieren, weil sie eine Erklärung oder Entschuldigung dafür finden. Dies zeigt, wie komplex das Verhältnis zwischen Gerechtigkeit und menschlichem Verhalten in Organisationen ist. Eine solche systemische Rechtfertigung kann die Wahrnehmung von Ungerechtigkeit sogar verstärken und zu passiven Reaktionen führen, die das gesamte soziale Gefüge in der Organisation destabilisieren.

Es ist also nicht nur entscheidend, ob ein bestimmter Prozess als gerecht wahrgenommen wird, sondern auch, wie diese Wahrnehmung die Interaktionen und das Verhalten der Mitarbeiter beeinflusst. Der Umgang mit Gerechtigkeit in der Organisation erfordert eine sorgfältige Berücksichtigung der verschiedenen Faktoren, die zu einem gerechten Klima beitragen können, wie etwa das Verständnis von Gerechtigkeit als Teil einer umfassenden sozialen Identität und die Berücksichtigung der unterschiedlichen Erwartungen, die Mitarbeiter an die Organisation stellen.

Ein weiterer Aspekt, den man nicht außer Acht lassen sollte, ist der Einfluss von Unsicherheit auf das Gerechtigkeitsempfinden. Unsicherheit in der Arbeitswelt kann zu einem intensiveren Bedürfnis nach stabilen und gerechten Prozessen führen. Wenn Menschen das Gefühl haben, dass ihre berufliche Situation unklar oder unsicher ist, sind sie stärker auf Gerechtigkeit angewiesen, um sich sicher und respektiert zu fühlen. In Organisationen, die Unsicherheit minimieren und transparente Entscheidungsprozesse bieten, kann das Vertrauen und die Zufriedenheit der Mitarbeiter erheblich gesteigert werden.

Das Verständnis von Gerechtigkeit ist also kein isoliertes Konzept, sondern eines, das tief mit sozialen, psychologischen und kulturellen Faktoren verwoben ist. Ein tiefgehendes Verständnis und die Schaffung eines gerechten Umfelds erfordert nicht nur die Beachtung von Verfahrensweisen und Ergebnissen, sondern auch das Bewusstsein für die psychologischen Bedürfnisse und die soziale Identität der Mitarbeiter.

Wie beeinflussen Unsicherheit und Moralität unsere Wahrnehmung von Gerechtigkeit?

Die Art und Weise, wie Menschen Gerechtigkeitsurteile fällen, hängt stark von der Unsicherheit ab, die in ihren Emotionen verankert ist. Während frühere Studien meist längere Zeitspannen und situativ erzeugte Unsicherheit betrachteten, zeigt sich, dass die Unsicherheit, die in einer Emotion selbst liegt, ebenfalls einen entscheidenden Einfluss hat. Sie führt nicht nur dazu, dass Menschen intensiver in die Vergangenheit zurückblicken, sondern auch dazu, dass sie aktiver nach Hinweisen suchen, um die Zukunft besser einschätzen zu können. Dadurch erweitern sich ihre zeitlichen Horizonte, was die Verarbeitung von Gerechtigkeitserfahrungen tiefgreifend verändert. Die Intensität der Unsicherheit innerhalb einer Emotion kann somit beeinflussen, wann, wie und wie sorgfältig Menschen Informationen sammeln und verarbeiten.

Zwei aktuelle Modelle fokussieren direkt auf den Grad der Unsicherheit in Emotionen als entscheidenden Faktor für Gerechtigkeitsurteile. Mullen (2007) betont in seinem affektiven Modell der Gerechtigkeitsbeurteilung, dass nicht nur der positive oder negative Charakter (Valenz) einer Emotion entscheidend ist, sondern vor allem die Unsicherheit, die diese Emotion vermittelt. Unsichere Emotionen regen ein gründlicheres und systematischeres Nachdenken über Gerechtigkeit an. Paradoxerweise sind gerade jene unsicheren Emotionen, die eine sorgfältige und faire Entscheidungsfindung fördern, selten mit Führungs- oder Machtpositionen verbunden. Denn es sind oft Personen mit emotionaler Sicherheit, die in Führung gehen, obwohl genau diese Sicherheit dazu führt, dass sie weniger sorgfältig und weniger fair urteilen.

Dieses Spannungsfeld erklärt möglicherweise, warum in hierarchischen Organisationen oft weniger Gerechtigkeit umgesetzt wird. Die emotionale Gewissheit, die Führungskräfte ausstrahlen, begünstigt zwar ihre Auswahl, hemmt aber gleichzeitig eine tiefgehende und gerechte Verarbeitung von Konflikten. Zudem beeinflusst die Sicherheit oder Unsicherheit der Emotionen nicht nur die Betroffenen selbst, sondern auch Außenstehende durch emotionale Ansteckung. Beobachtet eine Person bei anderen Unsicherheit oder Gewissheit in emotionalen Reaktionen, so wirkt sich dies indirekt auf die Gerechtigkeitswahrnehmung und das Urteil der Beobachter aus. Dies kann zu einer Angleichung der Gerechtigkeitsurteile innerhalb von Gruppen führen, wobei nicht nur die Valenz, sondern auch die Unsicherheit der Emotion eine Rolle spielt.

Im Zusammenhang mit moralischen Emotionen zeigt sich eine weitere Dimension. Moralische Emotionen gelten als essenziell für das menschliche moralische Empfinden und motivieren Menschen dazu, Gutes zu tun und Schlechtes zu vermeiden. Forschung hat sich oft auf klar abgegrenzte moralische Emotionen wie Schuld oder Scham konzentriert. Haidt (2003) betrachtet Moralität als eine Dimension von Emotionen, bei der zwei Hauptmerkmale eine Rolle spielen: Erstens die Auslöser der Emotion, die entweder eigennützig oder gesellschaftlich orientiert sein können, und zweitens die Handlungstendenzen der Emotion, die prosocial oder selbstbezogen sein können. Prototypisch moralische Emotionen zeichnen sich dadurch aus, dass sie unpersönliche, gesellschaftlich orientierte Auslöser haben und prosoziale Handlungen motivieren. Angst etwa wird nur teilweise als moralische Emotion eingeordnet, da sie oft durch Bedrohung des Selbst und weniger durch moralische Anliegen ausgelöst wird.

Deontische Gerechtigkeitsmodelle gehen davon aus, dass Motive und Reaktionen auf Ungerechtigkeit nicht aus rationalem Eigennutz oder Statusängsten entstehen, sondern aus dem Bedürfnis, moralisch-soziale Normen aufrechtzuerhalten. Diese Perspektive betont die emotionale Grundlage von Gerechtigkeitsempfinden, wodurch moralische Empörung über wahrgenommene Ungerechtigkeit an Bedeutung gewinnt. Allerdings vermischen sich in der Forschung häufig moralisch motivierte Emotionen wie Empörung mit solchen, die eher eigennützig motiviert sind, wie Ärger. Diese Unterscheidung ist entscheidend, da eigennützige Emotionen nicht notwendigerweise zu prosozialem Verhalten führen.

Die Auseinandersetzung mit der Unsicherheitsdimension in Emotionen eröffnet neue Wege, Gerechtigkeitsprozesse aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten – sowohl von Betroffenen als auch von Entscheidungsträgern. Wenn Unsicherheit systematisches und sorgfältiges Nachdenken fördert, könnten gerade unsichere emotionale Zustände bei Führungskräften und Managern dazu beitragen, fairere und weniger voreingenommene Entscheidungen zu treffen. Dies steht im Kontrast zu der Vorstellung, dass Führungsstärke mit emotionaler Gewissheit einhergeht und verdeutlicht die komplexen Dynamiken, die in Gerechtigkeitsprozessen wirken.

Zusätzlich sollte verstanden werden, dass Gerechtigkeitswahrnehmung nicht isoliert stattfindet, sondern durch soziale Interaktionen und emotionale Ansteckung geprägt wird. Emotionale Zustände wirken wie soziale Signale, die das Urteil von Dritten beeinflussen und so Gruppenprozesse und kollektive Normen stabilisieren oder verändern können. Ebenso ist die moralische Bewertung von Emotionen nicht statisch, sondern hängt vom Zusammenspiel von Auslösern und Handlungstendenzen ab. Daher ist es entscheidend, die Feinheiten dieser emotionalen Dimensionen zu erkennen, um sowohl individuelle als auch soziale Gerechtigkeitsprozesse vollständig zu erfassen.

Wie das Due-Process-Modell die Fairness in der Leistungsbewertung beeinflusst

Das Due-Process-Modell ist ein entscheidendes Element zur Gewährleistung von Gerechtigkeit in Leistungsbewertungssystemen. Es basiert auf Prinzipien, die ursprünglich aus dem westlichen Rechtskontext stammen und auf den Ideen der Fairness und Gerechtigkeit beruhen, wie sie in der Magna Carta und der US-Verfassung verankert sind. Die Anwendung des Due-Process-Modells in der Personalbeurteilung kann dazu beitragen, faire Interaktionen zu fördern und die Wahrnehmung von Gerechtigkeit sowohl auf individueller als auch auf organisatorischer Ebene zu steigern. Doch wie die Forschung zeigt, ist das Modell nicht immer ausreichend, wenn es um zwischenmenschliche Dynamiken und Kommunikationsprozesse innerhalb des Bewertungsrahmens geht.

Ein zentrales Element des Due-Process-Modells in der Leistungsbewertung ist die Sicherstellung von Transparenz und die Bereitstellung von Informationen für alle beteiligten Parteien. Die Interaktionen zwischen Beurteiler und Beurteiltem sind dabei von entscheidender Bedeutung. Ein Bewertungsrahmen, der Mechanismen zur Informationsbeschaffung integriert, fördert eine aktive Beteiligung des Beurteilten an der Bewertung. Dies ist besonders wichtig, wenn der Beurteilte in einer Situation ist, in der er auf Informationen angewiesen ist, um faire Beurteilungen zu gewährleisten. In dieser Hinsicht ist die Schulung beider Parteien – sowohl der Beurteilenden als auch der Beurteilten – unerlässlich. Ein solches Training fördert nicht nur die Kommunikation, sondern auch ein besseres Verständnis für den Bewertungsprozess und die Mechanismen zur Beschwerdeeinlegung.

Die Forschung zeigt, dass das Verhalten des Beurteilten entscheidend zur Wahrnehmung von Fairness beiträgt. Eine Person, die aktiv nach Informationen sucht oder ihre Erwartungen bezüglich der Bewertung klar äußert, kann eher eine faire Behandlung erfahren. Allerdings ist dies nur dann der Fall, wenn die Beurteilenden in der Lage sind, auf dieses Verhalten angemessen zu reagieren, etwa durch eine verstärkte Kommunikation oder die Bereitstellung zusätzlicher Informationen. In einem gut funktionierenden System, das auf dem Due-Process-Modell basiert, sollten die Beurteilenden geschult werden, um auf solche Anfragen effektiv und gerecht zu reagieren.

Doch das Modell bezieht sich nicht nur auf strukturelle Faktoren, sondern auch auf die sozialen Aspekte der Leistungsbewertung. Die Qualität der Interaktion zwischen Beurteiler und Beurteiltem kann die Wahrnehmung von Gerechtigkeit erheblich beeinflussen. Mehrere Studien haben gezeigt, dass die Fairnesswahrnehmungen in Bezug auf die Leistungsbewertung nicht nur durch die systemischen Rahmenbedingungen, sondern auch durch die Art und Weise geprägt werden, wie die Parteien miteinander kommunizieren. Dies macht deutlich, dass die sozialen Interaktionen innerhalb des Bewertungssystems nicht vernachlässigt werden dürfen.

Die Bedeutung der Schulung für beide Parteien kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Wenn sowohl Beurteilende als auch Beurteilte gut informiert und in der Lage sind, sich gegenseitig klar und respektvoll zu kommunizieren, wird das gesamte System transparenter und gerechter. Diese Schulungen sollten daher nicht nur auf technische Aspekte der Bewertung, wie Kriterien und Verfahren, fokussieren, sondern auch auf die zwischenmenschliche Kommunikation und das Verhalten während des gesamten Prozesses.

Interessanterweise gibt es internationale Studien, die zeigen, dass die Prinzipien des Due-Process-Modells auch in nicht-westlichen Kulturen Anwendung finden können, allerdings unter Berücksichtigung kultureller Unterschiede. In einer globalisierten Arbeitswelt ist es zunehmend wichtig, die kulturellen Dimensionen der Leistungsbewertung zu berücksichtigen, um sicherzustellen, dass das Modell in verschiedenen kulturellen Kontexten angemessen und effektiv umgesetzt werden kann. Es gibt Hinweise darauf, dass in Ländern wie Australien oder der Türkei das Wissen über die Bewertungsverfahren und die aktive Teilnahme an der Festlegung von Leistungszielen die Wahrnehmung von Fairness beeinflussen. Dies bedeutet, dass auch in einem internationalen Kontext das Due-Process-Modell nicht starr angewendet werden darf, sondern flexibel an die kulturellen Gegebenheiten angepasst werden muss.

Die Forschung hat gezeigt, dass die Implementierung des Due-Process-Modells in Leistungsbewertungssystemen sowohl individuelle als auch organisatorische Vorteile mit sich bringen kann. Eine klare Kommunikation und das Einhalten der Prinzipien der Fairness fördern nicht nur eine gerechtere Beurteilung von Mitarbeitenden, sondern können auch das Engagement und die Organisationsbindung stärken. Mitarbeiter, die in einem gerechten System bewertet werden, zeigen tendenziell mehr freiwillige Verhaltensweisen, die über das eigentliche Arbeitsverhältnis hinausgehen – so genannte „Organizational Citizenship Behaviors“. Diese positiven Auswirkungen sind sowohl für die Mitarbeitenden als auch für die gesamte Organisation von Vorteil.

Insgesamt zeigt sich, dass das Due-Process-Modell ein leistungsfähiges Werkzeug für faire Leistungsbewertung darstellt, dessen Erfolg jedoch nicht nur von den systemischen Komponenten abhängt. Auch die Interaktionen zwischen den beteiligten Personen sind von großer Bedeutung. Durch gezielte Schulungen und eine stärkere Betonung der zwischenmenschlichen Aspekte der Bewertung lässt sich die Fairnesswahrnehmung in einem Leistungsbewertungssystem erheblich verbessern. Dies führt nicht nur zu besseren Ergebnissen für die Mitarbeitenden, sondern trägt auch zur langfristigen Förderung einer gerechten und transparenten Unternehmenskultur bei.

Wie Bewerber Fairness während des Auswahlprozesses wahrnehmen: Ein Modell der Reaktionen

Die Wahrnehmung von Fairness im Auswahlprozess ist ein zentrales Thema in der Personalpsychologie und beeinflusst nicht nur das Verhalten der Bewerber, sondern auch die Beziehungen zwischen ihnen und der Organisation. Ein wichtiges Modell zur Erklärung von Bewerberreaktionen auf Auswahlverfahren wurde von Arvey und Sackett (1993) entwickelt. Es berücksichtigt Fairness aus verschiedenen Perspektiven, insbesondere aus der Sicht der Bewerber sowie der der Entscheidungsträger der Organisation. Diese mehrdimensionalen Ansätze liefern wertvolle Erkenntnisse, um zu verstehen, wie Bewerber den Auswahlprozess erleben und wie sie auf unterschiedliche Beurteilungen reagieren.

Arvey und Sackett unterscheideten dabei zwei zentrale Aspekte der Fairness: die Fairness der Auswahlprozesse an sich und die Fairness in der Behandlung der Bewerber. Dieser zweifache Ansatz wird von weiteren Forschern, wie Cropanzano und Wright (2003), gestützt. Sie betonen, dass Auswahlfairness sowohl die strukturellen Merkmale des Auswahlverfahrens als auch die sozialen Aspekte der Bewerberbehandlung umfasst. Die Wahrnehmung dieser Fairness ist für Bewerber von entscheidender Bedeutung, da sie Einfluss auf ihre Einstellung gegenüber der Organisation, ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit und sogar auf die Annahme eines möglichen Jobangebots hat.

Ein zentrales Modell, das sich mit der Fairness aus der Sicht der Bewerber beschäftigt, wurde von Gilliland (1993) formuliert. Gilliland hob hervor, dass Bewerber die Auswahlverfahren nach bestimmten Regeln und Kriterien beurteilen, die sich auf die Transparenz, Konsistenz und Vorhersehbarkeit der Verfahren beziehen. Diese Regeln tragen dazu bei, das Gefühl von Fairness zu fördern, indem sie den Bewerbern eine klare Vorstellung von den Anforderungen und dem Ablauf des Auswahlprozesses vermitteln. Die Kriterien zur Beurteilung der Fairness betreffen sowohl die Auswahlverfahren selbst als auch die Art und Weise, wie Bewerber während des Prozesses behandelt werden.

Das Konzept der "Sozialen Gültigkeit" (Social Validity) wurde von Schuler (1993) weiterentwickelt und konzentriert sich darauf, wie wichtig es ist, dass die Auswahlmethoden für die Bewerber nachvollziehbar und verständlich sind. Es geht darum, sicherzustellen, dass die Informationen über die Auswahlverfahren klar und zugänglich sind, dass die Rückmeldungen zu den Leistungen der Bewerber ausreichend sind und dass den Bewerbern die Möglichkeit gegeben wird, aktiv am Auswahlprozess teilzunehmen. Diese Aspekte fördern nicht nur die Fairness, sondern auch das Vertrauen der Bewerber in die Organisation und ihre Entscheidungen.

Ein weiteres theoretisches Konzept, das in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen hat, ist das der „Gegenfaktoren“ aus der Fairness-Theorie (Folger & Cropanzano, 1998, 2001). Laut dieser Theorie neigen Individuen dazu, sich negative Erfahrungen durch die Entwicklung von "Gegenfaktoren" zu erklären, wenn sie sich unfair behandelt fühlen. Im Kontext der Bewerbung bedeutet dies, dass Bewerber nach einem negativen Auswahlverlauf fragen könnten: „Konnte das Unternehmen einen besseren Test anbieten?“ oder „Hätte ich bei einem anderen Auswahlverfahren bessere Chancen gehabt?“ Diese Überlegungen können zu einer negativen Wahrnehmung des Auswahlprozesses führen, insbesondere wenn sie nicht ausreichend adressiert werden.

Die Anwendung dieser Fairness-Theorien auf den Auswahlprozess lässt sich in zwei Hauptfaktoren unterteilen, die sowohl die Struktur der Verfahren als auch die soziale Behandlung der Bewerber betreffen. Die Struktur fairer Verfahren umfasst beispielsweise die Validität und Vorhersehbarkeit der Tests sowie die Klarheit der Informationen und die Möglichkeit zur Leistungsbewertung. Die soziale Fairness bezieht sich auf die Gleichbehandlung aller Bewerber, die Offenheit und Ehrlichkeit im Umgang mit den Bewerbern sowie die Art und Weise, wie sie während des Auswahlprozesses behandelt werden.

Zusätzlich zur Untersuchung dieser grundlegenden Fairness-Aspekte, wurden von Bauer et al. (2001) die "Selection Procedural Justice Scales" (SPJS) entwickelt, die 39 Kriterien zur Beurteilung von Auswahlverfahren umfassen. Diese Kriterien teilen sich in zwei Hauptkategorien: die Struktur der Verfahren und die soziale Fairness. Der Strukturfaktor umfasst Aspekte wie die Vorhersehbarkeit der Tests, die Möglichkeit zur Leistungsdemonstration und die Transparenz der Rückmeldungen. Der soziale Fairnessfaktor betont dagegen die Gleichbehandlung der Bewerber, die Offenheit der Testadministrator:innen und die respektvolle Behandlung der Bewerber während des Auswahlprozesses.

Wichtig zu verstehen ist, dass die Wahrnehmung von Fairness nicht nur von den objektiven Eigenschaften des Auswahlprozesses abhängt, sondern auch von der Interpretation der Bewerber. Wenn Bewerber das Gefühl haben, dass sie unfair behandelt wurden oder dass der Auswahlprozess nicht transparent oder unklar war, kann dies ihre Wahrnehmung der Organisation negativ beeinflussen. Daher sollten Unternehmen nicht nur auf die strukturellen Aspekte der Fairness achten, sondern auch darauf, wie sie den Bewerbern gegenübertreten und wie transparent ihre Auswahlverfahren gestaltet sind.

Ein weiteres wichtiges Element der Fairness-Theorie ist die Möglichkeit zur Mitbestimmung und zur Überprüfung der Auswahlentscheidungen. Bewerber sollten die Gelegenheit haben, ihre Testergebnisse zu überprüfen und Feedback zu erhalten, insbesondere wenn sie das Gefühl haben, dass die Ergebnisse ihre Fähigkeiten nicht korrekt widerspiegeln. Die Möglichkeit zur Beteiligung am Auswahlprozess trägt nicht nur zur Wahrnehmung von Fairness bei, sondern stärkt auch das Vertrauen der Bewerber in die Integrität des Auswahlverfahrens.

Es ist entscheidend, dass Unternehmen den Auswahlprozess als einen Dialog zwischen der Organisation und den Bewerbern betrachten, bei dem die Wahrnehmung von Fairness eine zentrale Rolle spielt. Die Berücksichtigung der Bedürfnisse und Perspektiven der Bewerber kann nicht nur zu einer höheren Zufriedenheit und einer besseren Kandidatenerfahrung führen, sondern auch die langfristige Beziehung zwischen der Organisation und den Bewerbern stärken.